Presse & Kommunikation

Forschung aktuell
< "Spritzen an Gefangene"

 

Auswertung und Diskussion der Zwischenergebnisse des Modellprojektes "Infektionsprophylaxe im Niedersächsischen Justizvollzug"

Kurzfassung eines Zwischenberichtes

von Rüdiger Meyenberg, Heino Stöver und Jutta Jacob

Nach einer Laufzeit des Modellprojektes Infektionsprophylaxe im Niedersächsischen Justizvollzug von 12 Monaten in der JVA für Frauen Vechta und von 9 Monaten in der JVA für Männer Lingen I Abt. Groß Hesepe liegt inzwischen ein Erfahrungswissen über die Annahmebereitschaft der Maßnahmen durch die Zielgruppe der drogenabhängigen Inhaftierten, über die Integration der Möglichkeit des Spritzenaustausches in den Arbeitsalltag der Bediensteten und über vollzugliche Dynamiken seit Einführung der gesundheitsorientierten Innovation vor. Die Forschungstätigkeit der sozialwissenschaftlichen Begleitung bezieht sich auf diese Aspekte des Entwicklungsprozesses des Modellprojektes.

Die vorliegende Auswertung findet im Interesse von prozeßorientierter Begleitforschung zu ausgewählten Schwerpunktbereichen statt, d.h. der Fokus liegt auf praxisverwertbaren Ergebnissen, die noch produktiv in den weiteren Projektprozeß einbezogen werden können. Schwerpunkte der Ergebnisauswertung liegen bei den Gruppen der Bediensteten, der ProjektteilnehmerInnen, der nicht-drogenabhängigen und der substituierten Inhaftierten. Der Bericht gliedert sich in 4 Kapitel:

  • Dokumentation grundlegender Daten und Entwicklung der Rahmenbedingungen

  • Statistische Analyse der Vorab-Befragung der Bediensteten und der ProjektteilnehmerInnen

  • Qualitative Analyse der Befragung verschiedener Zielgruppen

  • Ergebnisdarstellung.

Die übersichtliche Ergebnisdarstellung orientiert sich an den im Eröffnungsbericht (Bd. 1 der Schriftenreihe) vorgestellten Forschungszielen und strukturiert sich wie folgt:

Die Verbindung zum Eröffnungsbericht wird für die Leserin/den Leser in einem gesonderten Kapitel (Ausgangslage) hergestellt, so daß dieser Zwischenbericht als eigenständiges Werk lesbar ist.

Eine detaillierte Ergebnisdarstellung ist in der Buchversion des Zwischenberichtes erfolgt (Bezug: e-mail: sip@bis1.uni-oldenburg.de, Tel.: 0441/798-2261, Fax: 0441/798-4040, Preis: 20,- DM). Im folgenden werden ausgewählte Erkenntnisse aus den einzelnen Analyseschritten der verschiedenen methodischen Herangehensweisen übergeordnet miteinander in Verbindung gebracht.

Ein Großteil des empirisch erhobenen Materials wird erst aussagekräftig durch ein Heranziehen von Verlaufswerten zum Meßzeitpunkt t2.


1. Akzeptanz innerhalb der verschiedenen Statusgruppen

Entlang der Dimensionen Erwartungen und Befürchtungen in Bezug auf die Maßnahmen des Modellprojektes und seines Stellenwertes im Vollzugsalltag, die wir innerhalb der Gruppe der Bediensteten und der ProjektteilnehmerInnen vor Beginn der Maßnahme erhoben haben, lassen sich Annahmebereitschaften und Akzeptanzmotive ablesen. Inwieweit sich Vorannahmen in der konkreten Projektpraxis niederschlagen bzw. bewahrheiten oder revidiert werden, läßt sich gegenwärtig nur durch die Ergebnisse der qualitativen Interviews aus den Perspektiven der verschiedenen Interessengruppen zusammentragen.

Vorab-Erwartungen der Bediensteten

Nach den Ergebnissen unserer standardisierten Bedienstetenbefragung vor Beginn der Maßnahme erwarten die Bediensteten in beiden Anstalten vom Modellprojekt vor allem eine Verbesserung ihres Kenntnisstandes über die Problematiken von Drogen, Infektionskrankheiten und Strafvollzug, sowie eine klare Regelung für den Umgang mit Spritzenfunden. Der letzte Punkt spiegelt das Bedürfnis nach Klärung für den Berufsalltag wider, das durch die Veränderungen des Modellprojektes entstanden ist. In beiden Anstalten wurden klare Regelungen für den Umgang mit gefundenen Spritzen getroffen.

Darüber hinaus erwarten die Bediensteten mit hoher Ausprägung eine Verringerung von Infektionskrankheiten bei den Gefangenen und eine erhöhte Glaubwürdigkeit der anstaltlichen Bemühungen zur Eindämmung der Infektionskrankheiten, d.h. sie erwarten eine erfolgreiche Umsetzung des Gesundheitsgedankens.

Überdurchschnittliche Erwartungen beziehen sich insgesamt auf eine Verbesserung der Gesundheitsvorsorge. Für ihren eigenen beruflichen Alltag läßt sich eine überdurchschnittliche Erwartungshaltung in Bezug auf eine größere Klarheit im beruflichen Umgang mit den Themen Sucht, Spritzen, Infektionsgefahren feststellen. Dazu wird eine größere Kontrollmöglichkeit über Zahl und Aufbewahrungsort benutzter Spritzen erwartet. Eine positive Grundeinstellung der Bediensteten dem Modellprojekt gegenüber läßt sich daran ablesen, daß eine Vergabe steriler Spritzen selbstverständlich zur Alltagsroutine werden soll und daß das Projekt erfolgreich wird und die Maßnahmen in anderen Anstalten übernommen werden. Dies wird auch in der Reflexion der ersten Projekterfahrungen in der qualitativen Befragung der Bediensteten bestätigt. In den Äußerungen wird das Spritzenumtauschprojekt als akzeptierte Standardausrüstung des Vollzuges wahrgenommen. Sowohl die Spritzenvergabe über Automaten als auch die Hand-zu-Hand-Vergabe wird auf der Ebene der vollzugspraktischen Durchführung als unauffällig und in den Arbeitsalltag integriert beschrieben. Als Indikatoren einer reibungslosen Umsetzung im Anstaltsalltag werden angeführt, daß bislang keine besonderen Vorkommnisse oder spektakuläre Zwischenfälle und somit auch keine Konfliktpotential anläßlich der Modellprojektmaßnahmen zu verzeichnen sind. Die Annahmebereitschaft der Modellmaßnahmen durch die Bediensteten geht dabei auf einen Entwicklungsprozeß zurück: Aus Skepsis und Vorbehalten aufgrund der hauptsächlich in der öffentlichen Diskussion geäußerten Befürchtungen über Bedrohungspotentiale ist eine eher akzeptierende Haltung geworden, die inzwischen das Projekt als Bestandteil des Vollzuges anerkennt. Dieser Veränderungsprozeß bestätigt die Annahme, daß Verhaltenssicherheit im Umgang mit den verschiedenen Anforderungen des Projektes in der Praxis durch klare Regeln entwickelt und erprobt worden ist und damit zu einer erhöhten Akzeptanz beigetragen hat. Aufgrund einer zum Teil an Befürchtungen orientierten öffentlichen Diskussion des Modellprojektes, stellt sich für einige Bedienstete die Notwendigkeit, sich über die Arbeit hinaus in privaten und öffentlichen Bezügen einer Auseinandersetzung über den Sinn und Zweck der Projektmaßnahmen unter dem übergeordneten Problem von Drogenabhängigkeit im Justizvollzug zu stellen. Diese Beschäftigung hat zu klareren Meinungsbildern geführt und die Richtung der eigenen Argumente zu mehr Akzeptanz hin verändert.

Durchschnittliche Erwartungen bezogen sich auf eine größere Ehrlichkeit im Kontakt mit den Gefangenen, was Spritzen, Infektionsgefahren usw. angeht. Anläßlich des Modellprojektes wird eine größere Verhaltenssicherheit im Umgang mit drogenkonsumierenden InsassInnen erwartet, und daß sich in dieser Auseinandersetzung eine klarere Definition des eigenen Verantwortungsbereichs herauskristallisiert.

In den qualitativen Interviews wird dies bestätigt. Für das Verhältnis zwischen Bediensteten und Drogenabhängigen hat die Einführung des Modellprojektes bewirkt, daß eine größere Gesprächsoffenheit bezogen auf die Drogenproblematik insgesamt die Kontaktmöglichkeiten zu den drogenkonsumierenden Inhaftierten erweitert hat. Grundlage dieses Prozesses ist die Wahrnehmung der Angebote des Modellprojektes als vertrauensbildende Maßnahme im Arbeitskontakt von Bediensteten und Drogenabhängigen. Das grundsätzliche Anerkennen der Drogenproblematik macht eine situationsbezogene Thematisierung angstfreier möglich. Mit einer problemorientierten Kommunikationsbereitschaft wird eine größere inhaltliche Verständnisnähe zu der Thematik Drogenabhängigkeit als Krankheit, als weitreichendes psycho-soziales Problem entwickelt. Durch den Wegfall von Geheimhaltungsstrategien (illegaler Spritzenbesitz) werden Energien und Möglichkeiten freigesetzt, auch bisher tabuisierte Inhalte als eigentliches Problem anzusprechen. Diese Zusammenhänge werden als befreiend und handlungserweiternd für den Vollzugsalltag geschildert.

Allgemein werden höhere Erwartungen an das Modellprojekt von Bediensteten der JVA für Frauen in Vechta formuliert, als von Bediensteten der JVA Lingen I Abt. Groß Hesepe. Zurückhaltendere Erwartungsäußerungen der Bediensteten in Groß Hesepe ergeben sich insbesondere bei den Themenbereichen Verbesserung der Gesundheitsvorsorge für die Gefangenen, erhöhte Glaubwürdigkeit der anstaltlichen Bemühungen um Verhütung von Infektionskrankheiten im Strafvollzug, verbesserter Kenntnisstand, größere Ehrlichkeit im Kontakt mit den Gefangenen und Erfolgserwartung an das Projekt. Womit diese Zurückhaltung begründet werden kann, ist gegenwärtig noch nicht klar. Die t2-Untersuchung wird Aufschluß darüber geben, ob sich diese Haltung fortsetzt und wie sie sich auf den Projektverlauf niederschlägt.

Befürchtungen der Bediensteten

In der Vorab-Untersuchung der Bediensteten wurde diese Gruppe auch nach ihren Befürchtungen mit dem Modellprojekt und den damit verbundenen Veränderungen für ihren Berufsalltag befragt. Die Befürchtungen in beiden Anstalten beziehen sich vor allem darauf, daß durch die Möglichkeit der Spritzenzugänglichkeit bislang nicht intravenös konsumierte Substanzen nun gespritzt werden. Gegenwärtig kann festgehalten werden, daß es bislang keine Hinweise für eine Bestätigung dieser Veränderungsbefürchtung gibt: Vielmehr muß grundsätzlich davon ausgegangen werden, daß der intravenöse Drogengebrauch sowohl vor als auch während des Projektes im Justizvollzug oft aus ökonomischen Gründen gewählt wird, um die vorhandene Dosis maximal zu nutzen. Dieser Zusammenhang wird in den Angaben der Vorab-Befragung drogenkonsumierender InsassInnen zu ihrem Drogenkonsumverhalten seit Haftantritt bestätigt.

Die geäußerte Befürchtung, daß das Modellprojekt eine Anregung für bisher nicht-drogenkonsumierende Gefangene bieten könnte, wird von den Bediensteten in den fokussierten Interviews kontrovers betrachtet. Faktische Hinweise dafür existieren bisher nicht. Allgemein wird keine Signalwirkung des Spritzenumtauschprojektes zum Einstieg in den intravenösen Drogenkonsum festgestellt. Die Existenz und Verbreitung des Drogenkonsums in den Anstalten wird nicht als durch die Verfügbarkeit steriler Spritzen beeinflußt erklärt. Vielmehr wird die Suchtdynamik als handlungsleitendes Motiv verstanden.

Ob, wie vorab stark befürchtet, die Spritzenzugänglichkeit als Signal einer Legalisierung des Drogenkonsums mißverstanden wird, wird teilweise in den qualitativen Interviews angesprochen. Ein Einfluß der formalisierten Zugänglichkeit zu sterilen Spritzen auf den Umgang mit Drogen als Signalwirkung zur Duldung des Drogenkonsums durch Bedienstete und die Form der Drogenapplikation, Injizieren statt Sniefen, wird nicht vollständig ausgeschlossen.

Ebenfalls bestanden hoch ausgeprägte Befürchtungen dahingehend, ob die Situation der Bediensteten in beiden Anstalten im Projektverlauf eine angemessene Beachtung erfährt. Obwohl wir für den Initiierungsprozeß eine hohe Beteiligung und Partizipationsmöglichkeit der Bediensteten festgestellt haben, werden im Projektverlauf von den Bediensteten Zweifel daran geäußert, ob deren Beteiligung arbeitssituationsbezogen ihren Interessen in der konkreten Projektpraxis gerecht wird. Beispielsweise äußern sich die Bediensteten der JVA für Frauen Vechta über die begleitenden Präventionsveranstaltungen für ihre Statusgruppe. Ihre Qualitätsstandards orientieren sich daran, wie realitätsnah und umsetzbar die Schulungs- und Informationsangebote für ihren eigenen Berufsalltag sind. Negativerfahrungen mit Referenten, die diesen Ansprüchen nicht genügen, wirken sich angesichts des knappen Angebots als motivationsmindernd aus. Obwohl die Bereitschaft vieler Bediensteter als hoch eingeschätzt wird, an diesen Veranstaltungen teilzunehmen, liegen Hemmnisse in arbeitsorganisatorischen Gründen. Die Zwänge der alltäglichen Praxis in der Anstalt machen es erforderlich, daß Freiräume für diese Veranstaltungen erst mühevoll geschaffen werden müssen.

Durchschnittlich ausgeprägt waren die Befürchtungen der Bediensteten zum Bereich, inwieweit das Modellprojekt im Widerspruch steht zu bisherigen traditionellen Hilfen der Anstalt oder externer HilfeanbieterInnen: Methadon-Vergabe, Therapievermittlung und psychosoziale Betreuung. Aus der Sicht der anstaltlichen Daten der Drogenhilfe ergeben sich für diese Befürchtungen keine bestätigende Anhaltspunkte für einen Rückgang der Nachfrage nach zusätzlichen und qualifizierten Hilfsangeboten. Dadurch wird deutlich, daß die Projektmaßnahmen als Bestandteil der anstaltsinternen Drogenhilfe wahrgenommen werden, denen eine eigene Relevanz im Bereich schadensminimierender Bemühungen zukommt. Gleichzeitig schafft dieses zusätzliche suchtbegleitende Angebot niedrigschwellige, z.T. erstmalige Kontaktsituationen zu drogenabhängigen Gefangenen, die in der Folge in der JVA Groß Hesepe zu Vermittlungen in weiterführende Hilfen geführt haben.

Ebenfalls durchschnittlich ausgeprägt waren die Befürchtung der Bediensteten vor Projektbeginn, der Drogenkonsum in der Anstalt könne mit der legalen Zugänglichkeit zu sterilen Spritzen zunehmen. Nach neunmonatiger Laufzeit in der JVA Lingen I Abt. Groß Hesepe und einjähriger Laufzeit in der JVA für Frauen Vechta gibt es keine Anhaltspunkte dafür, diese Vorannahmen als begründet anzusehen. Es gab in der Projektlaufzeit keine vermehrten Drogenfunde, was als Indikator der Entwicklung des Drogenumlaufes in den Anstalten definiert werden könnte.

Relativ gering vorhanden sind Befürchtungen in beiden Anstalten zu den öffentlich stark diskutierten Bedrohungsängsten, die von den Spritzen ausgehen könnten. In beiden Anstalten bestehen bei den Bediensteten kaum Befürchtungen, daß sie selbst oder ein/e Gefangene/r mit einer Spritze bedroht werden könnten, oder sie selbst vermehrt der Gefahr von Nadelstichverletzungen ausgesetzt sein könnten. Es ist bislang in beiden Anstalten nicht zu entsprechenden Vorkommnissen gekommen.

In den qualitativen Interviews wird dies an der Realität der Projektpraxis überprüft und bestätigt. Die von uns befragten Bediensteten empfinden keine konkreten Bedrohungsängste und verfügen nicht über Bedrohungserfahrungen: weder im Zusammenhang mit dem Umlauf von relativ vielen Spritzen angesichts des Spritzenumtauschprojektes noch außerhalb dieses Projektes. Es wird festgestellt, daß theoretisch mögliche Bedrohungen von Bediensteten mit einer Vielzahl von Gegenständen ausgeführt werden könnten. Auch vor Beginn des Projektes waren Bedrohungen mit dem konkreten Gegenstand "Spritze" möglich, weil alte und gebrauchte Spritzen auch vorher im Vollzug waren. Erst mit der Thematisierung von Bedrohungsszenarien im Rahmen der Diskussionen über das Spritzenumtauschprojekt wurden Bedrohungsmöglichkeiten wahrgenommen. Eine kontinuierliche Beziehungsarbeit wird letztlich als gute Prävention von potentiellen Bedrohungen oder Übergriffen betrachtet.

Ebenfalls gering ausgeprägt, aber vorhanden, sind die Befürchtungen der Bediensteten in beiden Anstalten, daß das Modellprojekt zu Verhaltensunsicherheiten beim Umgang mit Spritzenfunden einschließlich Betäubungsmittelanhaftungen oder bei meldepflichtigem Fehlverhalten führen könnte. Entsprechend formulieren die Bediensteten, daß Konfliktfälle zum Zwecke einer größeren Verhaltenssicherheit durch anstaltliche Dienstanweisungen geklärt werden sollen. Während in Groß Hesepe nahezu alle befragten Bediensteten (93%) eine formale Regelung von Konfliktfällen befürworten, fordern in Vechta lediglich etwa die Hälfte (54%) ein starres Reglement. Die Regelungen zur Einhaltung der Projektmodalitäten sind bereits als Handreichung für Bedienstete vorab den betroffenen Gruppen zugänglich gemacht worden. In den fokussierten Interviews werden Verhaltensunsicherheiten im Projektprozeß zu Beginn benannt, die sich mit wachsender Erfahrung und Vertrautheit mit dem Modellprojekt weitgehend abgebaut haben. Eine weitgehende Einhaltung von Regeln des Spritzenumtauschprojektes durch die Gefangenen wird konstatiert, was entsprechende Sanktionierungsroutinen erübrigt. Gelegentlich vorgekommene Regelverstöße im instrumentellen Bereich des Modellprojektes, wie beispielsweise eine unsachgemäße Lagerung von Spritzen, werden nach individuellen Maßstäben der verantwortlichen Bediensteten eingeordnet und mit entsprechenden Reaktionen beantwortet. Die Palette an möglichen Sanktionen reicht von diskreten informellen Zurechtweisungen der betroffenen Teilnehmer bis hin zu formalen Vorgängen, auf die unter Umständen mit Verweisen reagiert wird. Es wird beschrieben, daß sich das Kontrollverhalten seit Beginn der infektionsprophylaktischen Maßnahmen nicht verändert hat, obwohl die Anlage des Projektes eine leichte Einsehbarkeit begünstigt, d.h. obwohl potentiell die Kontrollmöglichkeiten bezogen auf den Status "drogenabhängig" durch das Projekt vergrößert worden sind. Es scheint sich keine neue, auf das Modellprojekt bezogene Kontrollpraxis etabliert zu haben, entsprechend der in der Umsetzungskonzeption der Anstalt vorgesehen Handlungsanweisungen für die Bediensteten.

Die oben angesprochene reservierte Erwartungshaltung der Bediensteten der JVA Lingen I Abt. Groß Hesepe findet ihre konsistente Entsprechung in ihren Äußerungen zu den Befürchtungen gegenüber dem Modellprojekt: Die Ergebnisse der schriftlichen Befragung vor Beginn der Maßnahme zeigen einen durchweg, über alle Fragen höheren Grad an Befürchtungen bei der Bedienstetengruppe in Groß Hesepe gegenüber der in der JVA für Frauen in Vechta. Statistisch bedeutsame Unterschiede gegenüber den Angaben zu Befürchtungen der Bediensteten in Vechta ergeben sich darin, inwieweit eine Spritzenvergabe im Widerspruch steht zur Methadon-Vergabe und zur Therapievermittlung, d.h. zur praktizierten eher abstinenzorientierten anstaltsinternen Drogenhilfe. Wie die Ergebnisse der praktischen Suchtkrankenhilfe in beiden Anstalten zeigen, werden in beiden Modellprojektanstalten etwa gleichbleibend viel Vermittlungen in stationäre Therapien oder ambulante Behandlungen (einschließlich Substitutionsbehandlungen) vorgenommen oder es ist, wie in der JVA für Frauen in Vechta, eine höhere Zahl von Anträgen auf Aufnahme in externe Therapieeinrichtungen als in den Vorjahren zu verzeichnen, die aufgrund unklarer oder verweigerter Kostenzusagen nicht umgesetzt werden können.

Die Bediensteten befürchten vorab weiterhin, daß eine Verunsicherung durch das Wissen über die Teilnahme bestimmter Inhaftierter am Spritzenaustauschprogramm erfolgen könnte und sprechen damit indirekt Anonymitätsaspekte des Modellprojektes an. Nur marginale Unterschiede bestehen bezüglich der Befürchtungen, daß Spritzen den Frieden auf der Station stören, daß durch den Spritzenumlauf der Berufsalltag unübersichtlicher wird, und daß Verhaltensunsicherheiten bestehen beim Umgang mit Mitteln zur Spritzhygiene, bei meldepflichtigem Fehlverhalten und beim Umgang mit Drogenfunden.

Die Befürchtungen zu sozialen Struktureinflüssen durch das Modellprojekt werden in den qualitativen Befragungen inhaltlich ausdifferenziert. Eine übergeordnete Betrachtung der Wirkung des Modellprojektes auf soziale Strukturen innerhalb der Anstalt vermittelt, daß die Einrichtung des Spritzenaustausches sich unwesentlich auf das Zusammenleben der verschiedenen Gruppen auswirkt. Als basales Strukturierungsmoment der sozialen Verhältnisse und alltäglicher Interaktionen unter Inhaftierten und mit den Bediensteten wird vielmehr die spezifische Dynamik des Drogenumgangs unter Haftbedingungen identifiziert. Eine detaillierte Analyse der Beziehungsebenen verdeutlicht soziales Konfliktpotential:

Das Verhältnis zwischen drogenabhängigen und nicht-drogenabhängigen Gefangenen wird unabhängig von der Existenz des Modellprojektes von der Universalität des drogenbezogenen Alltags und der Drogensubkultur bestimmt. Aufgrund hoher Aufmerksamkeits- und Betreuungsleistungen der Anstalt drogenabhängigen Gefangenen gegenüber, strukturieren Konkurrenz- und Neidaspekte die Beziehung. Kontaktvermeidungen und Differenzierungswünsche in der Unterbringung bestimmen ein weit verbreitetes Reaktionsmuster nicht-drogenabhängiger Inhaftierter Drogenabhängigen gegenüber.

Als bestimmend für das soziale Klima zwischen Bediensteten und drogenabhängigen Gefangenen im Vollzugsalltag werden Mißtrauens- und Vorsichtshaltungen auch im Zusammenhang mit dem Modellprojekt beschrieben.

Das Modellprojekt verdeutlicht Widersprüche im vollzuglichen Umgang mit Drogenabhängigen und leitet einen tiefergehenden Auseinandersetzungsprozeß im Spannungsfeld zwischen Kontrollauftrag und gesundheitsorientierter Hilfe ein.

Die jahrelangen Erfahrungen im Arbeitskontakt mit drogenabhängigen Inhaftierten haben einen Entwicklungsprozeß eingeleitet, der zu einer differenzierten vorurteilsfreieren Sichtweise der Betroffenen und ihrer Veränderungspotentiale geführt hat.

Es lassen sich Vermutungen über die Gründe der erhöhten Befürchtungshaltung bei gleichzeitiger niedriger Erwartung bei den Bediensteten in Groß Hesepe dahingehend anstellen, daß diese Tendenzen auf die Wirkung der anfänglich sehr detailliert vollzogenen Sammlung und Diskussion von Vorbehalten und möglichen Problematiken im Arbeitsalltag zurückzuführen sind. Durch einen fast vollständigen Einbezug der Bediensteten aus Groß Hesepe in den Vorbereitungsprozeß und durch Teilnahme an Vorab-Informationsveranstaltungen hat sich möglicherweise eine problemorientierte Sensibilisierung herausgebildet, die in den Erwartungs- und Befürchtungsäußerungen noch vor eigentlichem Projektbeginn zum Ausdruck kommt. Die Entwicklung dieser Befürchtungshaltungen kann in der Ergebnisanalyse zum zweiten Befragungszeitpunkt nachvollzogen werden.

Am zurückhaltendsten sind die Mitarbeiterinnen des Allgemeinen Vollzugsdienstes in der Beantwortung der Erwartungen und Befürchtungen in der Vorab-Befragung. Es ist davon auszugehen, daß sie sich einerseits in ihrem Arbeitsalltag massiv mit der Problematik des Modellprojektes und den infrastrukturellen Gegebenheiten der Praxis auseinandersetzen müssen, ohne letztlich über Entscheidungskompetenz in den übergeordneten Fragen des Projektes zu verfügen. Daraus läßt sich unter Umständen eine Unsicherheit in der eigenen Position und Haltung ableiten. Eine entsprechende Zurückhaltung ist bei den MitarbeiterInnen zu vermerken, die vorher in Falkenrott/Vechta oder der Hauptanstalt Lingen I gearbeitet haben. Diese Gruppen waren nicht in die inhaltlichen und praktischen Vorbereitungen zur Modellmaßnahme involviert und konnten sich deshalb nur theoretisch in die Zusammenhänge hineinversetzen.

Vorab-Erwartungen der InsassInnen

Die von den InsassInnen vor Beginn der Modellprojektmaßnahmen geäußerten Erwartungen beziehen sich primär auf eine verringerte (eigene) Infektionsgefahr, d.h. die Möglichkeit eines risikoärmeren, hygienischeren Drogenkonsums und den Wegfall des Spritzenerwerbs und damit die sinkende Abhängigkeit untereinander aufgrund des Spritzenbesitzes. Die Erfahrungen der Projektlaufzeit zeigen, daß der Status der Spritze als Handelsobjekt in der JVA Groß Hesepe weiterhin existiert. Den Interviewaussagen der befragten Substituierten zufolge, sind (sterile) Spritzen weiterhin Tauschgegenstand und ein bestimmender Faktor für die Sozialstruktur unter den drogenkonsumierenden Gefangenen. Erklärt wird dieses Phänomen zum einen durch den Ausschluß der Substituierten aus dem Modellprojekt und deren subjektive Strategien im Umgang mit Beikonsum, zum anderen existiert ein inoffizieller Bedarf an Spritzen, weil nicht alle aktiv drogenkonsumierenden Inhaftierten Projektteilnehmer sind. Unter diesen Verhältnissen von verdecktem, illegalen Umgang mit Spritzen ist davon auszugehen, daß infektionsprophylaktische Interessen nachrangig verfolgt werden können.

Für das Zusammenleben mit den Bediensteten formuliert zwar ein Großteil keine besonderen Erwartungen - lediglich die größere "Ehrlichkeit und Klarheit des Umgehens untereinander", "der verminderte Streß durch Spritzenkonfiszieren" werden als Erwartungen neben der "geringeren Gefahr für Bedienstete durch Spritzenkonfiszieren" geäußert. Besonders in der letzten, hauptsächlich von Insassinnen der JVA Vechta genannten Erwartung kommt zum Ausdruck, daß das Projekt aus der Sichtweise und den Interessen beider Betroffenengruppen verstanden wird. In einer Gesamteinschätzung des Modellprojektes wird dessen Erfolg, dessen Weiterführung bzw. Übertragung in andere/n Anstalten, sowie eine Verbesserung des Umgangs mit Drogen und DrogenkonsumentInnen hauptsächlich genannt. In dieser Erfolgs- und Veränderungserwartung spiegelt sich ein gewisses Maß an Identifikation mit dem Projekt wider und läßt auf eine Zielgruppenorientierung des Modellprojektes schließen.

Vorab-Befürchtungen der InsassInnen

Die von den InsassInnen vor Beginn der Modellprojektmaßnahmen erhobenen Befürchtungen stellen sich geschlechtsspezifisch sehr unterschiedlich dar: Grundsätzlich bestehen bei den männlichen Inhaftierten in Lingen I Abt. Groß Hesepe stärkere Befürchtungen bezüglich einer Verschlechterung der eigenen Haftsituation durch eine potentielle Teilnahme am Spritzenumtauschprojekt. Deutlich läßt sich diese Divergenz aufzeigen an den geäußerten Befürchtungen eines "Bekanntwerdens des eigenen (intravenösen) Drogenkonsums" bei Teilnahme, was vor allem als belastend für das Zusammenleben mit den Bediensteten empfunden wird. Sowohl in den qualitativen Befragungen der Bediensteten als auch der substituierten Inhaftierten wird diese Tendenz durch die praktischen Erfahrungen mit dem Projekt bestätigt. Die anfängliche Annahmebereitschaft der drogenabhängigen Inhaftierten in Groß Hesepe war sehr zurückhaltend aufgrund o.a. Mißtrauenshaltungen. Obwohl das Erleben der Konsequenzen einer Projektteilnahme als vertrauensbildende Maßnahme gewirkt hat, existiert weiterhin noch ein Mißverhältnis zwischen der potentiellen Zielgruppe der Drogenabhängigen und der eigentlichen Teilnehmerzahl. Anders gestaltet sich die Annahmebereitschaft bei den inhaftierten Frauen. Anhand der Frequentierung der Automaten und der weitgehenden Einhaltung der Projektregeln läßt sich ablesen, daß die Zielgruppe mit den Projektmaßnahmen in hohem Maße angesprochen wird.

Ferner wird eine "negative Beeinflussung bei Anträgen auf vorzeitige Haftentlassung" und eine verstärkte Kontrollierbarkeit durch die Bediensteten durch Nutzung des Spritzentausches" befürchtet. Aber auch die Insassinnen der JVA Vechta haben vor dem Start Vorbehalte gerade im Verhältnis zu den Bediensteten: Diese äußern sich vor allem in der Befürchtung verstärkter Kontrollen (der Hafträume und des Urins auf Drogennachweise hin). Diese Befürchtung muß nach fast einjähriger Projektlaufzeit als nicht bestätigt bezeichnet werden: In beiden Anstalten hat es keine Veränderungen in den Haftraumkontrollen gegeben. Die Zahl der vollzuglich angeordneten Urinkontrollen stieg zwar in Vechta gegenüber dem Vergleichszeitraum unmittelbar vor Projektbeginn an, nicht jedoch zu Anordnungen aus dem Jahr 1995. In Lingen I Abt. Groß Hesepe hat es seit dem 15.7.96 keine Veränderungen gegeben. Eine Kontrollverschärfung bei Besuchen wird für beide Anstalten in den qualitativen Befragungen festgestellt. Obwohl diese Veränderungen zeitgleich mit dem Modellprojektbeginn identifiziert werden, werden inhaltlich Gründe genannt, die mit Vorkommnissen in anderen niedersächsischen Anstalten beschrieben werden.

Die stärkere Zurückhaltung der Insassen in Groß Hesepe dem Modellprojekt gegenüber korrespondiert mit der reservierten Haltung der Groß Heseper Bediensteten (s.o.). Ein Grund für dieses höhere Mißtrauenspotential der männlichen Gefangenen gegenüber dem Modellprojekt liegt sicherlich in der Dauer und dem Charakter ihrer bisherigen Erfahrungen von Strafinstitutionen: Die Dauer ihrer Erfahrungen vorheriger Inhaftierungen beläuft sich auf durchschnittlich 55 Monate (gegenüber 15,7 Monate bei den Frauen). Nimmt man Aufenthalte in der Psychiatrie und Maßregelvollzugsanstalten noch hinzu, dann haben die Männer 102 Monate (d.h. 8,5 Jahre) Erfahrungen mit totalen Institutionen (ohne vorhergehende Heimaufenthalte) hinter sich (die Frauen 25,7 Monate, d.h. 2,1 Jahre). Ihre gegenwärtig zu verbüßende Strafe dauert durchschnittlich 34 Monate (gegenüber 22 Monate bei den Frauen). Zusammengenommen heißt dies, daß die Männer mit sehr viel längeren Erfahrungen in sehr unterschiedlichen totalen Institutionen auch mehr Mißtrauenspotential gegenüber institutionellen Angeboten angehäuft haben könnten als die Frauen, und nur zögerlich von diesen innovativen Maßnahmen Gebrauch machen.

Konsequenterweise benennen die Gefangenen in ihren Forderungen an das Modellprojekt auch die "Wahrung und Schaffung von Anonymität" als wichtigste Bedingung. Dementsprechend wird konkret eine "nicht einsehbare Vergabesituation von Spritzen" (vor allem in der JVA für Frauen in Vechta) bzw. "keine erhöhte Kontrolle zum Zugang" (von den Männern in Lingen I Abt. Groß Hesepe) gefordert. Anonymitätsaspekte werden unter der konkreten Projekterfahrung von den Befragtengruppen vielschichtig angesprochen. Die Umsetzung eines Anonymitätsanspruchs im System Justizvollzug wird grundsätzlich in Frage gestellt. Es existiert eine Übereinstimmung darüber, daß es keine umfassende Anonymität der Projektteilnahme bzw. der ProjektteilnehmerInnen geben kann. Aufgrund der Einsehbarkeit der Spritzen im Haftraum und der sozialen Nähe im Haftalltag wird der Status "Drogenabhängig" zum Alltagswissen für Bedienstete und Mitinhaftierte. Die Spritzenabgabe via Automaten wird unter Anonymitätsgesichtspunkten dahingehend eingeschätzt, daß zumindest potentiell der Spritzentauschvorgang unentdeckt vonstatten gehen kann. In der Hand-zu-Hand-Vergabe können Tauschgewohnheiten und -häufigkeiten zwar dem Allgemeinen Vollzugsdienst gegenüber anonym vonstatten gehen, sind aber im persönlichen Kontakt zum Suchtberatungsdienst offen zu gestalten. Die genannten Einschränkungen der Anonymitätsbestrebungen werden von den Projektteilnehmerinnen der JVA Vechta als unproblematisch und praktikabel bezeichnet. Es wird vermutet, daß dem Anonymitätsgesichtspunkt in der Alltagspraxis wenig Bedeutung zugemessen wird und daß trotz eines eingeschränkten vertraulichen Umgangs mit dem Modellprojektgeschehen im täglichen Miteinander eine Akzeptanz dieser Bedingungen bei den Inhaftierten vorliegt. In der Beurteilung von Anonymität zwischen Bediensteten und Inhaftierten wird dem alltägliche Umgang mit der Kontrollfunktion der Bediensteten eine hemmende Funktion für die Durchführung der Modellprojektmaßnahmen unter vollkommen anonymen Bedingungen zugemessen.

Weiterhin wird in den Forderungen der Inhaftierten angesprochen, daß keine erhöhten Repressalien und Kontrollen durch Bedienstete und keine Nachteile für den Vollzug der eigenen Strafe bzw. für Lockerungen erfolgen sollten. Die Lockerungspraxis der Anstalt Groß Hesepe unter der Laufzeit des Modellprojektes widerlegt die Befürchtung von vollzuglichen Nachteilen durch eine Projektteilnahme. Grundsätzlich verfolgt die Anstalt, wie auch die JVA für Frauen Vechta, eine Lockerungspraxis, die auch drogenabhängige Inhaftierte einbezieht. Konkret erhielten 13 inhaftierte Projektteilnehmer erstmals während der Teilnahme am Spritzenaustauschprojekt im Jahr 1996 Lockerungen. Für die Gruppe der Projektteilnehmer besteht damit eine völlig vergleichbare Lockerungspraxis in Bezug auf die Gesamtgruppe der drogenabhängigen Inhaftierten der Anstalt.

Für eine effektive Nutzung der Modellprojektmaßnahmen im Kontext der konzeptionellen Ausrichtung in beiden Anstalten ist der Umgang der Substituierten mit der Ausschlußsituation von Interesse. Für beide Anstalten wird eine Praxis des Beikonsums von Spritzdrogen, zumindest gelegentlich oder phasenweise beschrieben. Intravenöser Beigebrauch wird als Rückfall bezeichnet. Neben dem allgemeinen Drogenbeschaffungsmanagement sind die Bedingungen des Beikonsums in Haft gekoppelt an eine illegale Versorgung mit Spritzen und möglicherweise damit einhergehenden Abhängigkeiten zu SpritzeninhaberInnen. Die Konsumsituation wird in Hinblick auf Infektionsschutz als ambivalent beschrieben. Der Zwiespalt des Beikonsums als doppeltes Verbot ist den Befragten bewußt: Sie erkennen auch den Widerspruch, der in ihrem Ausschluß in Bezug auf Infektionsschutz vorliegt. Der Gesundheitsappell im Zusammenhang mit dem Modellprojekt zum infektionsrisikoarmen Gebrauch von Drogen bestimmt ein Alltagsbewußtsein in der Anstalt, das die Substituierten teilen, aber im Fall eines Beikonsums ggf. nicht in die Praxis umsetzen können. Auffallend ist, daß obwohl ein Wissen über Ansteckungsgefahren und sicheren Drogenkonsum vorliegt, das außerhalb des Vollzuges auch praktiziert wurde, die Verhältnisse in Haft zu Inkonsequenzen und Gleichgültigkeiten im Spritzverhalten bei dieser Gruppe führen müssen. Es hat sich eine inoffizielle Nutzung des Spritzenumtauschprojektes durch Dritte eingebürgert, auch im Interesse von Infektionsschutz bei Beikonsum. Diese verdeckte Teilnahme scheint insgesamt zum Drogenkonsumsetting seit Einführung des Modellprojektes als individuelle Strategie des Infektionsschutzes zu gehören.


2. Machbarkeit der Maßnahme

Inwieweit die Maßnahme des Spritzenumtausches innerhalb der jeweiligen anstaltlichen Gegebenheiten umsetzbar ist, läßt sich an der Integrationsmöglichkeit der Vergabemodalitäten in den arbeitsalltäglichen Ablauf, an arbeitsorganisatorischen Konsequenzen und an den Auswirkungen der Projektmaßnahmen auf das Zusammenleben in der Anstalt festmachen.

Bedeutsame Unterschiede zeigen sich in der subjektiven Bewertung des Modellprojekts vor seinem Start durch die männlichen und weiblichen Gefangenen. Vor allem der jeweilige Vergabemodus wird in den beiden Anstalten jeweils unterschiedlich bewertet: Während die Männer die Hand-zu-Hand-Vergabe durch den Suchtberatungsdienst zurückhaltender bewerten, sprechen die Frauen von einer deutlich positiven Lösung der Vergabe. Die Erfahrungszeit mit dem Modellprojekt bestätigt die zurückhaltende Bewertung der männlichen Inhaftierten. Kritische Einschätzungen zum gewählten Hand-zu-Hand-Vergabemodus orientieren sich an den wahrgenommenen Grenzen der Anonymität. Das medizinische und formale Prozedere wird als so hochschwellig eingestuft, daß die Annahme-bereitschaft der Inhaftierten darunter leidet. Andererseits wird der zahlenmäßig fast deckungsgleiche Rücklauf gebrauchter Spritzen als praktische Bestätigung der Entscheidung für eine Hand-zu-Hand-Vergabe eingeordnet. Die Verantwortungsübernahme der Inhaftierten für die sorgfältige Rückgabe gebrauchter Spritzen wird an der Kontaktsituation mit größerer sozialer Verbindlichkeit beim Tauschen festgemacht, die eine Automatenvergabe nicht gewährleistet. Es wird der Vorteil hervorgehoben, daß beim Tauschen eine Gesprächsmöglichkeit vorhanden ist, die bei Bedarf von den Betroffenen für das Ansprechen weiterer Hilfsangebote genutzt werden kann.

Die positive Einstellung der befragten drogenabhängigen Insassinnen wird an der Projektrealität insoweit bestätigt, als daß die Automatenregelung eine selbstbestimmtere und unabhängigere Praxis gewährleistet, indem die Tauschmomente und -frequenzen anonym ablaufen können. Die Erreichbarkeit der Automaten und damit eine lückenlose Versorgung mit sterilen Einwegspritzen wird als gewährleistet beschrieben. Die technische Zuverlässigkeit der Automaten wird kritisiert. Nach anfänglichen technischen Schwierigkeiten wird zwischenzeitlich die Funktionstüchtigkeit der Automaten als überwiegend zuverlässig eingestuft.

Der Einfluß des Modellprojektes auf die Sozialstruktur innerhalb der Anstalt wird sowohl von den Inhaftierten als auch von den Bediensteten in der Vorab-Befragung eingeschätzt. Die Frage nach möglichen Auswirkungen der Spritzenvergabe auf das Zusammenleben in der Anstalt wird von den Männern deutlich zurückhaltender bewertet als von den Frauen. Diese Vorab-Frage wird von beiden Bedienstetengruppen unentschieden beantwortet: Weder, ob sie überhaupt einen Einfluß nimmt, noch, wenn ja, in welcher Weise. Die nach einer sechsmonatigen Laufzeit durchgeführte qualitative Befragung kann den Aspekt des Einflusses auf die Sozialstruktur durch die Sichtweisen verschiedener Statusgruppen erhellen. Vor allem die nicht-drogenabhängigen Inhaftierten beschreiben soziale Zusammenhänge im Haftalltag. Für die Sozialstruktur zwischen nicht-drogenabhängigen und drogenabhängigen Inhaftierten wird ein Spektrum an unterschiedlichen Bezügen und Interaktionsformen der beiden Gruppen untereinander abgesteckt. Die Bandbreite reicht von grundsätzlichen Vorbehalten gegenüber Drogenabhängigkeit und DrogenkonsumentInnen und Benachteiligungsdenken und Konkurrenz bis zu einer Verständnisbereitschaft unter dem Aspekt der Gesundheitsprophylaxe. Es existiert der Eindruck, daß, obwohl die Drogenabhängigen ohnehin schon viele Unterstützungsressourcen absorbieren, ihnen mit dem Modellprojekt eine weitere Maßnahme zugute kommt, während die Nicht-Drogenabhängigen immer weniger Angebote und psychosoziale Unterstützung erhalten. Es zeichnet sich auch im Zuge des Modellprojektes eine grundsätzliche Notwendigkeit bedürfnis- und problemdifferenzierter Unterbringung verschiedener Inhaftiertengruppen ab. Durch die Einrichtung von Rückzugsmöglichkeiten als eine Form von Binnendifferenzierung wird eine soziale Entspannung anvisiert. Der Wunsch nach getrennter Unterbringung betrifft sowohl nicht-drogenabhängige Frauen, als auch gefährdete und drogenkonsumierende Inhaftierte, die räumlichen und persönlichen Abstand zu anderen, aktiv oder ehemals drogenkonsumierenden Frauen suchen.

In der JVA Lingen I Abt. Groß Hesepe werden arbeitsorganisatorische Konsequenzen benannt, die durch die Einführung des Modellprojektes deutlich geworden sind. Sie hängen mit der personalaufwendigen Vergabepraxis zusammen. Insbesondere die Abdeckung der Tauschzeiten an den Wochenenden, d.h. die lückenlose Aufrechterhaltung der Infrastruktur des Modellprojektes, stellt dabei organisatorische Anforderungen. Durch das zusätzliche niedrigschwellige, suchtbegleitende Angebot des Spritzenumtausches hat sich für den Suchtberatungsdienst ein neuer Arbeitsbereich herauskristallisiert, der personell mit den alten Ressourcen zusätzlich abgedeckt werden muß.

Für die JVA für Frauen in Vechta werden als arbeitsbezogene Veränderungen thematisiert, die der Arbeitsalltag des Modellprojektes mit sich bringt: Durchschließen einzelner Projektteilnehmerinnen zu den Spritzenumtauschautomaten, Ansprechbereitschaft bei technischen Problemen. Darüber hinaus besteht bei den Bediensteten ein Interesse, die Regeln des Modellprojektes gegenüber den Inhaftierten zu vertreten und für Verständnis zu werben, damit ein reibungsloser Ablauf und eine gesundheitseffektive Beteiligung möglich sind. Erklärungen über Sinn und Zweck der Maßnahmen auch gegenüber den Nicht-Drogenabhängigen wird als nötig erachtet, um eine Verständnisbasis zu schaffen. Die geäußerte Rollenübernahme der Bediensteten als Mediatoren drückt ihre Bereitschaft zur aktiven Mitgestaltung des Modellprojektes aus, was auf eine Identifikation mit den Zielen schließen läßt.


3. Zum Drogengebrauchsverhalten

Die unmittelbar vor Beginn des Modellprojektes erfragten Drogengebrauchsmuster weisen bezogen auf den Zeitpunkt einen Monat vor der Inhaftierung zwischen den InsassInnen der Anstalten in Vechta und Lingen I Abt Groß Hesepe große Ähnlichkeiten auf: Heroin wurde von 84% bzw. 81% , Kokain von mehr als 41% bzw. 38% entweder ein- oder mehrmals täglich, überwiegend intravenös konsumiert. Andere Applikationsformen (sniefen, inhalieren, rauchen) sind zwar vorhanden, werden aber nur von wenigen angewandt. Benzodiazepine werden hauptsächlich oral, nur etwa von jeder/m siebten Gefangenen intravenös appliziert. Die Konsumhäufigkeit insbesondere von harten Drogen verringert sich dann während der Inhaftierung z.T. drastisch: Der ein- oder mehrmalige Konsum am Tag von Heroin, Kokain und auch Benzodiazepinen verlagert sich auf gelegentlichen oder wöchentlichen Konsum. Diese Entwicklung läßt sich vor allem für die männlichen Gefangenen belegen. Darüber hinaus verschwindet ihr täglicher Gebrauch von Kokain in Haft fast vollständig. Während Benzodiazepine einen Monat vor Hafteintritt noch von 34-41% der Gefangenen konsumiert wurden, sinken diese Werte auf ca. ein Viertel bzw. ein Fünftel in Haft ab. Ein erheblicher Teil der einen Monat vor Haftantritt mit Methadon substituierten Gefangenen werden in beiden Modellprojektanstalten weitersubstituiert.

Die bevorzugte Konsumart verändert sich in Haft kaum; es zeigt sich lediglich eine tendenzielle Reduktion alternativer Konsumarten (sniefen, rauchen, inhalieren).

Insgesamt befinden sich viele Inhaftierte in einem fortgesetzten Stadium ihrer Drogenkarriere: Die Männer und Frauen sind seit durchschnittlich 10 Jahren regelmäßige HeroingebraucherInnen, mit weit verbreitetem (Misch-) Gebrauch vieler anderer legaler und illegaler Drogen und unter anderem erheblichen Erfahrungen mit Überdosen (40 - 50% der befragten InsassInnen in beiden Anstalten). Zur Einschätzung der Relevanz und Möglichkeit der Modellprojektmaßnahmen für gesundheitliche Verbesserungsprozesse muß berücksichtigt werden, daß es sich bei der konkreten Zielgruppe in beiden Anstalten um hochgradig belastete Personen handelt, deren gesundheitliche Lage durch langjährige Hafterfahrungen und intensiven Drogenkonsum geprägt wurde.


4. Gesundheitsorientierte Einstellungen

Risikoreicher Drogenkonsum wird von den vor Beginn des Modellprojektes befragten Gefangenen wesentlich häufiger (bzw. zum ersten Mal) während der Haft als außerhalb praktiziert. Dies betrifft alle Indikatoren risikoreichen Konsums: deutliche Häufungen von Situationen (mehrmaligen) Spritzentauschs (Spritzentausch in der Haft beschreiben 76% der Frauen und 87% der Männer), Nutzung nicht-desinfizierter Spritzen, Übernahme gebrauchter Spritzen, Teilen von Drogen und Spritzutensilien, sowie eine Ungewißheit über den Infektionsstatus des/r Tauschpartners/in. Die Gründe für das needle sharing liegen nicht darin, daß ein gemeinsamer Drogenkonsum (und Spritzenbenutzung) mit Mitgefangenen präferiert wird, sondern in der Unmöglichkeit, sauberes Besteck in der Anstalt beschaffen zu können. Gefangene treten nicht nur als "NehmerInnen" gebrauchten Spritzbestecks, sondern in hohem Ausmaß auch als "WeitergeberInnen" an durchschnittlich 3-6 verschiedene Personen in der Anstalt auf.

Was den zweiten möglichen Infektionsweg über ungeschützte Sexualkontakte anbelangt, befindet sich die überwiegende Mehrzahl der InsassInnen in einer festen Partnerschaft mit Freund oder Freundin; eine Drogenabhängigkeit des Partners ist bei den Insassinnen der JVA Vechta stärker ausgeprägt als bei den Männern in Groß Hesepe. Beiden untersuchten Gruppen ist die Anwendung, Funktion und Qualitätsmerkmale eines Präservativs bekannt, angewendet wird es jedoch von etwa zwei Drittel der Befragten nur selten. Demgegenüber geben 16 bis 19% einen ständigen Gebrauch von Kondomen an. Die wesentlichen Gründe für eine Nicht-Benutzung von Kondomen liegen in der Annahme der Treue und festen Beziehung zum Partner und im Wissen des eigenen und des Infektionsstatus" des Partners. Sexualkontakte in Haft bestätigen 25% der Frauen und 22% der Männer. Der Beschaffungsprostitution sind 44% der Frauen und 14% der Männer jemals in ihrem Leben, ein Teil davon auch im letzten Jahr vor ihrer Inhaftierung nachgegangen, wobei die meisten angeben, immer Kondome verwendet zu haben.

Unsicherheiten in sexuellen Situationen in Bezug auf Infektionskrankheiten scheint sowohl im Privatbereich, als auch in der Beschaffungsprostitution nur ein geringer Prozentsatz der befragten Personen zu haben. Nur einige verspüren Risikogefühle bei neuen Bekanntschaften ohne Kondombenutzung bzw. bei falscher Benutzung eines Kondoms bzw. eines defekten Kondoms.

Es besteht zudem eine weitgehende Unkenntnis über effiziente Desinfektionsmethoden und entsprechende ungenügende Desinfektionspraktiken: Am häufigsten wurden die Praktiken "Waschen/Ausspülen", "Auskochen" mit unbestimmter Länge, "heißes/kochendes Wasser durch die Nadel ziehen" genannt.

Wissen bei den InsassInnen

Adäquate Wissensbestände bilden die Basis für gesundheitsorientierte Handlungskompetenzen auch im Umgang mit Infektionsrisiken und ggf. schädigendem Konsum von illegalen Drogen. Viele InsassInnen verfügen bereits über eigene Erfahrungen was Charakter, Prävention und Krankheitssymptome der Infektionskrankheiten HIV/AIDS und Hepatitiden angeht. Der Kenntnisstand bezüglich HIV/AIDS ist dabei größer, als der über die Hepatitisinfektionen. Eine Kommunikation über diese Infektionskrankheiten der InsassInnen untereinander wird von etwa jedem/r zweiten Gefangenen berichtet. Mit Bediensteten wird selten mehr als einmal über diese Themen gesprochen, in Vechta noch von 22% der Befragten, in Lingen Groß Hesepe nur von 6,7%. Wie bereits oben angedeutet, ergeben sich erhebliche Informationslücken bezüglich effizienter Desinfektionsmethoden: Das Ausspülen der Spritze wird fälschlicherweise bei 40% der Insassen der JVA Lingen Groß Hesepe und 15% der Insassinnen der JVA Vechta als angemessen betrachtet. Auch bei der Methode des Auskochens zeigen sich erhebliche Unsicherheiten bezüglich der effektiven Länge: Mehr als 15 Minuten als richtige Antwort wird aber nur von 35% der Männer und 75% der Frauen als effizient genannt.


5. Bedeutung flankierender Präventions- und Informationsangebote

Das Modellprojekt "Infektionsprophylaxe im Niedersächsischen Justizvollzug" beinhaltet mehr als die Vergabe steriler Spritzen an drogenabhängige Gefangene: In beiden Anstalten ist die Wichtigkeit flankierender Präventions- und Fortbildungsangebote sowohl für die betroffenen Gefangenen, als auch für die Bediensteten als integraler Bestandteil des Modellprojektes von Beginn an betont worden.

Nach den Ergebnissen unserer schriftlichen Befragung der Bediensteten bestehen Wissensdefizite vor allem im Hinblick auf das Thema Hepatitis-Übertragungswege. In der JVA für Frauen Vechta gaben 33 Personen (d.h. 57,9%) und in der JVA Lingen I Abt. Groß-Hesepe 23 Personen (48,9%) bei den Fragen zu den Hepatitis-Übertragungswegen falsche oder "weiß nicht"-Antworten. Dies ist deshalb von großer Bedeutung, weil die Gefangenen möglicherweise die Bediensteten als erste mit ihren eigenen Unsicherheiten in Bezug auf Hepatitis-Transmissionen, Schutzmaßnahmen und Krankheitssymptomen konfrontieren, und darüber hinaus die Bediensteten ein bestimmtes Sachwissen für Hygiene- und Präventionsfragen im Berufsalltag benötigen.

Im Gegensatz zum vorhandenen Wissen über die Hepatitiden ist das Wissen über HIV-Transmission, Infektionsschutz Testmöglichkeit bei den Bediensteten breiter vorhanden. Obwohl ein nicht unerheblicher Teil auf die offen gestellten Fragen nach "Was ist AIDS?", "Was sagt ein HIV-Antikörper-Test aus?", "Wann spricht man davon, daß jemand AIDS-krank ist?", keine, oder keine richtige Antwort geben konnte.

Die Bediensteten in beiden Anstalten selbst erwarten in hohem Maße eine Verbesserung ihres Kenntnisstandes im Projektverlauf. Informationsangebote und Fortbildungen werden von der Mehrheit der Bediensteten in beiden Anstalten übereinstimmend als notwendig erachtet. Fortbildungen werden vor allem gefordert zu den Bereichen "Infektionskrankheiten im Strafvollzug", "Drogen und Sucht im Vollzug", "Praktische Drogen-Notfall-Hilfe vor Ort". Veranstaltungen zu "safer sex" und "safer use" erscheinen den Bediensteten für ihre eigene Gruppe weniger relevant.

Neben Informationen über spezifische Themenschwerpunkte des Modellprojektes bestehen von Seiten der Bediensteten Forderungen nach einer regelmäßigen Informiertheit über den Verlauf der Projektmaßnahmen. In der schriftlichen Vorab-Befragung halten fast alle Bediensteten ein Informationsangebot über das Modellprojekt für notwendig. Ein großer Prozentsatz wünscht sich dabei einen Einbezug des Personalrates. Darüber hinaus wollen fast alle befragten Bediensteten in die praktische Planung und Durchführung des Modellprojektes einbezogen werden. Dabei wird ein Mitspracherecht bei den räumlich-organisatorischen Fragen hoch eingeschätzt. In den Themenkomplex des fachlichen Austausches zum Modellprojekt gehört der Wunsch einer sehr großen Zahl von Bediensteten nach Kooperation mit anderen Anstalten, die vergleichbare Modellprojekte bereits praktizieren. Auf diese Vorschläge von den Bediensteten ist durch eine Hospitationspraxis und durch gegenseitige Besuche von MitarbeiterInnen der JVA Vechta mit der Frauenhaftanstalt in Hindelbank/Schweiz und der JVA Lingen I Abt. Groß Hesepe mit der Männerhaftanstalt Solothurn/Schweiz regelmäßig vor allem in der ersten Projektzeit eingegangen worden. Ein Austausch der MitarbeiterInnen beider Modellprojektanstalten hat durch gegenseitige Besuche stattgefunden. Die spezifische Thematik "Spritzenvergabe im Männervollzug" konnte von einigen Bediensteten der JVA Lingen I Abt. Groß Hesepe vor Ort in der Männerhaftanstalt Vierlande/Hamburg anläßlich einer anderen Vergabevariante mit konzeptionellen Unterschieden erörtert werden.

Die meisten Insassinnen in beiden Anstalten (jeweils 87%) äußern Interesse an einer Teilnahme an Informationsveranstaltungen und -schulungen zu Themen wie "Drogen und Infektionskrankheiten im Vollzug". Unterschiedlich hingegen ist das Gefühl, angemessen über die Vorbereitungen für die Umsetzung des Modellprojektes informiert worden zu sein: Hier ist der Prozentsatz der männlichen Gefangenen höher (81%) als der in Vechta (67%).


6. Relevante Fragestellungen für die weitere Modellprojektpraxis

Zielgruppenorientierte Präventionsmaßnahmen sollten an den Bedürfnissen der Betroffenen ansetzen. Für das Modellprojekt stellt sich in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit einer Verfeinerung der instrumentellen Ausstattung der Angebote: Aufgrund schlechter Venenlage einzelner, vor allem älterer Gefangener, wird die Erlaubnis zum Besitz mehrerer Kanülen gefordert. Diese sollten in unterschiedlichen Stärken verfügbar sein.

Mit dem Start des Modellprojektes sind allgemeine Hygieneansprüche und Desinfektionsroutinen in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Vor allem die befragten nicht-drogenabhängigen Inhaftierten greifen den Aspekt des Infektionsschutzes als allgemeines hygienisches Problem der Anstalt auf, von dem auch sie sich betroffen fühlen.

Eine Aufstockung der begleitenden Informations- und Präventionsangebote wird sowohl für die Gruppe der Bediensteten als auch der Inhaftierten als anstrebenswert formuliert. Die vorfindbaren Wissensdefizite seitens der Bediensteten (hauptsächlich Hepatitiden) und Inhaftierten (Hepatitiden und Desinfektionstechniken) sollten entsprechend mit einem flexiblen Veranstaltungsangebot geschlossen werden.

Als vernachlässigter Bereich der Infektionsprophylaxemaßnahmen wird die Thematik Sexualität im Vollzug deutlich. Eine Sprachlosigkeit und ein Ausblenden dieser Lebensbereiche fällt auf und läßt verdeckte und ggf. riskante Umgehensweisen vermuten. Gerade eine Betroffenheit durch Prostitutionserfahrungen verlangt einen aktiven Umgang mit Angeboten zur Verbesserung der Handlungskompetenzen in privaten und geschäftlichen sexuellen Bezügen. Umfassende sexualpädagogische Angebote mit zielgruppenspezifischen safer sex-Schulungen könnten dazu beitragen, dieses Defizite abzubauen.

Für diese Präventionsangebote standen den Anstalten keine zusätzlichen Mittel zur Verfügung, so daß man auf externe Gruppen und AnbieterInnen und auf interne Kompetenzen in der Wissensvermittlung und Erfahrungsaustausch angewiesen war. Eine bewußtseinsbildende personal-kommunikative Präventionsarbeit verlangt fachspezifische Kompetenzen und Kenntnisse, die die eigenen Ressourcen unter Umständen nicht immer abdecken und deshalb nicht kostenneutral sein können.

Nach einer anfänglich umfangreichen Partizipation der Bediensteten in die Vorbereitung des Modellprojektes, wird inzwischen die Informationspraxis der Anstalten als verbesserungsbedürftig eingeschätzt. Im Interesse an dem jeweils aktuellen Stand und Verlauf des Modellprojektes erwarten die Bediensteten ebenso wie die Inhaftierten eine aktive, regelmäßige Informierung, ohne gezielt nachfragen zu müssen.

Der Ausschluß der Substituierten stellt einen Schwachpunkt im Hinblick auf eine konsequente Umsetzung der infektionsprophylaktischen Absichten des Modellprojektes dar. Die Ausschlußsituation wirft widersprüchliche Fragestellungen auf: Wenn ein Wissen darüber vorliegt, daß (gelegentlicher) intravenöser Beikonsum trotz vertraglicher Vereinbarung zur Realität der Substitutionsbehandlung sowohl außerhalb als auch innerhalb des Vollzuges gehört, kann bewußt auf die Möglichkeiten des Infektionsschutzes verzichtet werden? Wie soll anstaltlicherseits mit verdeckten Strategien, als individuelle Lösungsversuche Betroffener, umgegangen werden? Wie kann sich ein Alltagsbewußtsein über Infektionsschutzverhalten und Gesundheitshandeln in einer als widerspruchsvoll und inkonsequent erlebten offiziellen Praxis entwickeln? Sind andere Abgabemodi für die Gruppe der Substituierten als Gegenmaßnahme denkbar, die z.B. in einem beziehungsorientierten Vergabesetting Möglichkeiten einer angstfreien Thematisierung von Beikonsum eröffnen?

Das Modellprojekt als gesundheitsorientierte Maßnahme setzt einen übergeordneten Auseinandersetzungsprozeß über drogenpolitische Meinungen und Innovationen in Gang. Von einzelnen Befragten wird das Widerspruchspotential "Spritzen sind legal erhältlich - Drogenkonsum ist illegal" angesprochen. Im Interesse einer effektiven, konsequenten Umsetzung des Gesundheitsanspruches wird als weitere innovative Maßnahme eine kontrollierte Vergabe von Heroin an Schwerstabhängige als Zukunftsaufgabe gefordert.


 

Kontakt: Prof. Dr. Rüdiger Meyenberg, Dr. Heino Stöver, Tel.: 0441/9706-143, Jutta Jacob, Tel. 0441/9706-142, Fachbereich 3 Sozialwissenschaften, Institut für Politikwissenschaft II, Fax: 0441/9706-180, e-mail: infekt@psychologie.uni-oldenburg.de


. forschung aktuell . spritzen . kurz