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agis-Modell: Erfahrungen aus fünf Jahren Organisation interdisziplinärer Sozialstrukturforschung

Modellprojekt wegweisend für zukünftige Forschungsstrukturen an der Oldenburger Universität ?

Der Vorstand der Arbeitsgruppe Interdisziplinäre Sozialstrukturforschung (agis), Prof. Dr. Dieter Sterzel (Sprecher), Dr. Uta Loeber-Pautsch, Prof. Dr. Wolfgang Nitsch, Dr. Falk Rieß und Dr. Brigitte Schulte-Fortkamp, stellt seine Erfahrungen mit einem fünfjährigen Modell-Projekt vor und will damit zur Diskussion über künftige Forschungsstrukturen an der Universität Oldenburg beitragen.

Das Modell agis

1991 schlossen sich an der Universität Oldenburg aus den Fachbereichen Erziehungswissenschaft, Sozialwissenschaften, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften, Kommunikation/Ästhetik, Philosophie/Psychologie/Sportwissenschaft und Physik 18 WissenschaftlerInnen zu einer "Arbeitsgruppe Interdisziplinäre Sozialstrukturforschung (agis)" zusammen, um Projekte zur Erforschung der technologisch-ökologischen, sozio-kulturellen und politisch-rechtlichen Dimensionen des gesellschaftlichen Wandels durchzuführen. Parallel wurde an der Universität Hannover eine Arbeitsgruppe gleichen Namens gegründet. Der Beitritt zu dieser Arbeitsgruppe war jederzeit weiteren KollegInnen möglich. Die gemäß § 115 NHG errichteten Arbeitsgruppen bildeten die Grundlage einer zwischen den beiden Universitäten abgeschlossenen Kooperationsvereinbarung über einen Forschungsverbund Interdisziplinäre Sozialstrukturforschung (FIS). Dieser wurde vom Ministerium für Wissenschaft und Kultur (MWK) aus dem Nieders. Vorab der Volkswagenstiftung für fünf Jahre (1992-96) gefördert, wobei der Anteil für die agis Oldenburg 2.3 Mio Mark betrug. Mit dieser Form der Förderung hochschulinterner Forschungsinitiativen wurde einer Empfehlung der Hochschulstrukturkommission für das Land Niedersachsen entsprochen. Diese hatte in ihrem Bericht 1990 gefordert, das Land solle sich in Anbetracht des Trends zur Ausgliederung von Forschung in außeruniversitäre Forschungsinstitute verstärkt um deren Rückführung an die Hochschulen bemühen. Der Modellcharakter von agis lag darin, daß auf der Grundlage einer globalen Mittelzuweisung für fünf Jahre interdisziplinäre Forschungsprojekte über einen längeren Zeitraum initiiert und durchgeführt werden konnten und hierfür eine eigene Infrastruktur bereitgestellt wurde. Die wissenschaftliche Begutachtung des gesamten Forschungsprogramms übernahm ein wissenschaftlicher Beirat, dem zwölf namhafte Sozial-, Geschichts-, Kultur- und NaturwissenschaftlerInnen angehörten.

An der Universität Oldenburg gibt es gegenwärtig 38 "Arbeitsgruppen" und "Forschungsstellen", ein Graduiertenkolleg und einen Sonderforschungsbereich. Für die in Oldenburg bestehenden Arbeitsgruppen und Forschungsstellen ist kennzeichnend, daß eine kleine Zahl von WissenschaftlerInnen (oft nur in einem Fachbereich) gemeinsame Forschungsinteressen mit Drittmitteln abstimmen. Eine mit eigenen Mitteln und Stellen ausgestattete selbständige Organisationseinheit bilden sie typischer Weise nicht. Agis bot dagegen die Möglichkeit, finanziell und institutionell abgesichert, d.h. mit relativ autonomer Haushaltsführung und eigener Koordinations- und Geschäftsstelle, fächerübergreifend interdisziplinäre Forschungsprojekte durchzuführen.

Arbeitsschwerpunkte

Die fünfjährige Laufzeit der Förderung ermöglichte es den in der Arbeitsgruppe zusammengeschlossenen Wissenschaftlerinnen fächerübergreifend Projektideen zu entwickeln, sie aufeinander abzustimmen und in Forschungsanträge umzusetzen. Der zur Verfügung stehende zeitliche Rahmen bildete eine wichtige Voraussetzung dafür, die z.T. sehr unterschiedlichen Sicht- und Arbeitsweisen "fremder" Disziplinen kennenzulernen und sich auf neue Fragestellungen einzulassen. Der auf diese Weise in Gang gekommene Diskussionsprozeß schuf die Voraussetzung dafür, auch ungewohnte wissenschaftliche Kooperationen, wie z.B. zwischen Physik und Sozial- und Medienforschung, zu organisieren und auf dieser Basis neue Fragestellungen zu entwickeln, die dann in Zusammenarbeit mit Fachvertretern anderer Disziplinen konzeptionell umgesetzt werden konnten. In der agis Oldenburg bildeten sich dabei die folgenden Arbeitsschwerpunkte heraus: Sozialer Wandel und deutsche Vereinigung, Frauenforschung in der Region und in Migrationsprozessen, Struktur- und Bildungsforschung in der Region, Wandel des öffentlichen und politisch-rechtlichen Raumes sowie Naturwissenschaften und Öffentlichkeit.

Begutachtungsverfahren

Auf der Grundlage einer mit dem MWK getroffenen Rahmenvereinbarung wurden die Projektanträge der WissenschaftlerInnen in einem dreistufigen Verfahren begutachtet: 1. durch den Vorstand der agis in Oldenburg bzw. in Hannover, 2. durch den gemeinsamen Vorstand des Forschungsverbundes FIS und 3. durch externe WissenschaftlerInnen aus dem wissenschaftlichen Beirat. Ziel der mit diesem Verfahren verbundenen kritischen Auseinandersetzung war es, Fragestellungen zu präzisieren, die Methodenentscheidungen zu optimieren und die Forschungsvorhaben insgesamt auf ihre Realisierbarkeit zu überprüfen. Daraus ergab sich für alle Beteiligten ein wichtiger Erfahrungsgewinn, nicht zuletzt für diejenigen WissenschaftlerInnen, die bislang noch keine derartigen Projektanträge gestellt hatten.

Personelle Zusammensetzung

Die agis Oldenburg setzt sich aus sieben ProfessorInnen und elf wissenschaftlichen MitarbeiterInnen zusammen. Die Mittelverteilung zeigt, daß das Ziel einer Verteilung von Fördermitteln nach wissenschaftlichen und nicht nach hierarchischen Gesichtspunkten in der agis realisiert werden konnte, denn 12 Projekte wurden von ProfessorInnen und 16 Projekte von wiss. MitarbeiterInnen durchgeführt. Agis entsprach damit in vollem Umfang dem Prinzip der DFG, daß jeder Forscher mit einer abgeschlossenen wissenschaftlichen Ausbildung Anträge auf Finanzierung von Projekten stellen kann. Daß dieser Grundsatz ansonsten in der Praxis wegen der als notwendig erachteten Betreuung wissenschaftlicher Arbeitsvorhaben durch ProfessorInnen de facto unterlaufen wird, ist hinlänglich bekannt.

Einzelprojekte

Die agis hat in der Regel Projekte nur für die Dauer von sechs Monaten gefördert und zwar durch die Finanzierung einer BAT IIa-Stelle und der erforderlichen Sachmittel. Projekte von einem Jahr wurden nur zweimal durchgeführt. Auch wenn diese Art der Mittelverteilung nicht unproblematisch ist, sprachen unseres Erachtens für diesen Modus folgende Gründe: Im Sinne eines Konzepts "Hilfe zur Selbsthilfe" sollte die Mittelgewährung dazu dienen, den Antragstellenden die sorgfältige wissenschaftliche Fundierung eines Folgeantrags bei einer anderen Förderinstitution zu ermöglichen. Die sich daraus ergebende Konsequenz war, daß sich die Organisatoren im Rahmen der agis auf kleinere Vorlauf- und Pilotstudien konzentrieren mußten. Gleichzeitig kam es uns aber darauf an, nicht nur die Erstellung eines Forschungsantrags zu finanzieren, was mit noch kürzeren Laufzeiten bereits bei der DFG und der VW-Stiftung möglich und sicherlich auch sinnvoll ist, sondern Ziel der agis war es, zu den einzelnen Forschungsvorhaben neben theoretischen und methodischen Problemanalysen auch erste empirische Ergebnisse vorzulegen.

Qualifizierung der MitarbeiterInnen

In den Projekten der agis konnte auf allen Ebenen der wissenschaftliche Nachwuchs gefördert werden. Das gilt einmal für wissenschaftliche MitarbeiterInnen (BAT IIa-Stellen), die in den Projekten weitgehend selbständig wissenschaftliche Fragestellungen bearbeitet haben und an der Abfassung der Forschungsberichte beteiligt waren. Ihre Qualifizierung bestand darin, Kenntnisse der empirischen Forschung im Forschungsprojekt einzubringen und dabei spezifische Fragestellungen und Probleme lösen zu helfen. Dies gilt z.B. bei der Durchführung und Auswertung zweisprachig durchgeführter Intensivinterviews, der Anwendung EDV-gestützter Textanalysen in interkulturellen und naturwissenschaftlichen Kontexten sowie der Verknüpfung von unterschiedlichen Methoden.

Bei den wissenschaftlichen Hilfskräften ging es vor allem um den wichtigen Erfahrungsgewinn, sich in ein Forschungsvorhaben einbringen zu können und in Kooperation mit anderen WissenschaftlerInnen ein gemeinsames Arbeitsergebnis in einem zeitlich vorgegebenen Rahmen zu erstellen.

Dieser sehr positiven Bilanz wird aber aus der Sicht der wissenschaftlichen MitarbeiterInnen entgegengehalten, daß die außerordentlich kurze Laufzeit der Projekte zu einem immensen Arbeitsdruck und tendenziell zu einer Überforderung geführt hat. Notwendige Arbeiten mußten in der Freizeit erledigt und Schlußberichte in der Zeit nach Ablauf des Projektes fertig gestellt werden. Kritisiert wurde insbesondere die Praxis der Besetzung mit halben Stellen, was zwar die Laufzeit verlängerte, aber im Falle anschließender Arbeitslosigkeit mit erheblichen Nachteilen bei der Gewährung von Arbeitslosengeld verbunden ist. Anzumerken ist freilich zu dieser - durchaus berechtigten - Kritik, daß es sich hier um kein Spezifikum der agis handelt, sondern um ein Dilemma der gegenwärtigen Forschungsförderung insgesamt.

Die MitarbeiterInnen waren jeweils dezentral bei den ProjektleiterInnen in den verschiedenen Fachbereichen und Instituten untergebracht. Das sicherte eine intensive Zusammenarbeit im Projekt. Andererseits konnte dem Wunsch einiger MitarbeiterInnen, sich untereinander über Probleme der Forschung aus ihrer Sicht auszutauschen, so nicht ausreichend Rechnung getragen werden.

Integration von Forschung in die Lehre

Daß Fragestellungen und Ergebnisse von Forschungsprojekten in der Lehre vorgestellt und diskutiert werden, ist im Sinne des universitären Prinzips der Einheit von Forschung und Lehre selbstverständlich; dies galt auch für die Projekte der agis. Vielfach wurden Veranstaltungen zu der Thematik eines Projekts von den jeweiligen WissenschaftlerInnen angeboten. Daneben hat es auch Versuche gegeben, an die Tradition des "forschenden Lernens" im Projektstudium anzuknüpfen, indem in Seminaren Fragestellungen erarbeitet, Untersuchungsergebnisse ausgewertet und Forschungsberichte erstellt wurden. Das ist freilich nur bedingt und unter bestimmten Voraussetzungen gelungen. Denn in der Regel entwickelt die Arbeit in einem Forschungsprojekt eine eigene Dynamik: Sie erfordert eigene Zeitstrukturen (vorgegebene Laufzeiten), eigene Arbeitsrhythmen (Arbeitsvertrag, Terminabsprachen) und spezifische Qualifikationen der MitarbeiterInnen. Realistisch gesehen handelt es sich immer um einen vergleichsweise kleinen Kreis von Studierenden, der zu der damit verbundenen Mehrarbeit bereit ist.

Koordinationsstelle

Nach den Erfahrungen von agis gehört die Einrichtung einer Koordinationsstelle zu den wichtigen Arbeitsvoraussetzungen für eine Forschungsgruppe. Über die bloße Geschäftsführung hinaus hat sie vor allem die Funktion, den Kontakt zu den einzelnen Mitgliedern zu halten, den Forschungsprozeß inhaltlich - wenn auch aus der Distanz - zu begleiten um auftretende Fragen und unvorhergesehene Probleme schnell beheben zu können. Diese Unterstützung bezog sich auch auf die Endredaktion der Forschungsberichte und die Edition der Schriftenreihe "agis texte". Es erscheint uns wichtig, daß hierfür wissenschaftliche MitarbeiterInnen zur Verfügung stehen, die nicht nur organisatorische Aufgaben wahrnehmen, sondern auch mit eigenen Forschungsvorhaben in den Forschungsprozeß integriert bleiben.

Publikationen

Die Ergebnisse der agis-Projekte und der in Hannover und Oldenburg durchgeführten Tagungen werden in der Schriftenreihe agis texte (bisher 16 Hefte) sowie in zwei für 1997 vorgesehenen Sammelbänden veröffentlicht: "Integration und Ausgrenzung. Hannoversche Forschungen zum gesellschaftlichen Strukturwandel" (Hg. Heiko Geiling) und "Quer zu den Disziplinen - Beiträge aus der Sozial-, Umwelt- und Wissenschaftsforschung" (Hg. Uta Loeber-Pautsch, Wolfgang Nitsch, Falk Rieß, Brigitte Schulte-Fortkamp, Dieter Sterzel). Während die agis Hannover sich darin auf theoretische Überlegungen und empirische Studien zum Wandel von sozialen Milieus und Mentalitäten in ost- und westdeutschen Regionen sowie zu neuen Erscheinungsformen von Öffentlichkeit und neuen Lebensweisen konzentriert, versammelt der Band von agis Oldenburg Untersuchungen, die den wissenschaftstheoretischen Ansatz interdisziplinärer Forschung als dreifache bewußte Erweiterung sozialwissenschaftlicher Struktur- und Transformationsanalysen verdeutlichen:

- als Öffnung der Soziologie gegenüber Nachbardisziplinen (Pädagogik, Politik, Recht) im Rahmen der Untersuchung aktueller sozialer Bruchstellen (deutsche Vereinigung, Migrationsprozesse, Disparitäten und Anpassungsprobleme in Regionen und Kommunen),

- als politisch-ökologische Forschung in konkreten Bereichen der herrschenden "gesellschaftlichen Naturverhältnisse", insbesondere in der städtischen Umweltentwicklung und

- als kritische Wissenschaftsforschung zu den historisch-gesellschaftlichen Kontexten und kulturellen Vermittlungsformen von Naturwissenschaft und Technik im Medien- und Bildungssystem.

Fortführung von Arbeitszusammenhängen

Da die finanzielle Unterstützung für den Forschungsverbund nach fünf Jahren ausläuft, kommt es in Zukunft darauf an, daß die Drittmittelforschung insbesondere von Seiten der DFG und der VW-Stiftung hinreichend Förderschwerpunkte für interdisziplinäre Untersuchungen im Bereich der Sozialstruktur-, Technologie- und Umweltforschung bereithält. Aber auch für die Universität Oldenburg insgesamt stellt sich die Aufgabe, entsprechende fachübergreifende Forschungsstrukturen mit ihren Mitteln zu fördern.

Wir regen daher an, daß die Universität nach Ablauf der agis-Finanzierung die Grundidee von agis mit einem vergleichbaren Instrumentarium fortführt und mit, wenn auch bescheidenen Mitteln, fördert. Gedacht ist diese Anschubförderung als Starthilfe für interdisziplinär orientierte sozialwissenschaftliche Studien und Methodenentwicklung in enger Kooperation mit anderen Fachbereichen zu aktuellen gesellschafts- und umweltpoltisch, wissenschaftstheoretisch und naturwissenschaftlich relevanten Problemfeldern. Die Universität Oldenburg hat in ihrer Geschichte stärker als das Gros der Universitäten sozialwissenschaftliche Anteile als Komponenten, Wahl- oder Nebenfächer in anderen Studiengängen gefördert. Diese Art der interdisziplinären Verknüpfung sollte aber auch auf der Ebene problem- und zukunftsorientierter Forschungsbereiche unterstützt werden. Es sollte geprüft werden, ob Startgelder zur Vorbereitung von Drittmittelprojekten für die oben genannten interdisziplinären Themen und Kooperationsformen befristet zur Verfügung gestellt werden können.

Für einige wichtige Drittmittel-Forschungsfelder, insbesondere im Rahmen der Bundes-, Landes- und EU-Ressort-Forschungsförderung, sind ergänzend zu den jeweiligen natur- oder geisteswissenschaftlichen Schwerpunkten interdisziplinäre Problemstellungen und Methodenkombinationen einzubeziehen, für die oft Wissen und Methoden aus den Sozial-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften sowie der Psychologie erforderlich sind. Umgekehrt benötigen in diesem Drittmittelspektrum auch manche primär sozialwissenschaftlich definierten Vorhaben eine Zuarbeit oder Beratung durch spezielle Bereiche der Natur- oder Geisteswissenschaften.

Die sozial-, wirtschafts- und rechtswissenschaftlichen Anteile in Drittmittel-Forschungsvorhaben dieser Art können nicht nur von VertreterInnen/MitarbeiterInnen dieser Fachgebiete in Oldenburg kommen, sondern auch von interdisziplinär arbeitenden KollegInnen anderer Fächer und auch aus anderen Universitäten, mit denen bei der Planung und Einwerbung von Drittmitteln eine Vernetzung beginnt. Aber auch außerhalb dieser Forschungsförderungsfelder einer angewandten Ressort- und Auftragsforschung scheint es z.T. für neuartige Grundlagengebiete im Rahmen der DFG wichtig zu sein, solche interdisziplinären Kooperationsformen zu stärken. Sie können schon mit sehr begrenzten Mitteln für Forschungskonferenzen, Gastaufenthalte u.ä. Impulse erhalten. Diese eher theorie- und methodenbezogenen interdisziplinären Kommunikationsformen würden auch der Nachwuchs- und Graduiertenförderung und der Lehre zugute kommen.

Im Sinne wissenschaftssoziologischer Analysen würde ein solches Instrumentarium der wechselseitigen Förderung von Prozessen "reflexiver Sekundär-Verwissenschaftlichung" zwischen natur-, geistes- und sozialwissenschaftlichen Fachgebieten dienen, wodurch diese besser für die Lösung komplexer gesellschaftlicher und sozialökologischer Innovations- und Zukunftsaufgaben "anschlußfähig" werden, so daß sich damit auch bloße "Ressort-Forschung" kompatibler darstellen könnte.

Für eine vergleichsweise kleine und junge Universität sind solche Bemühungen um eine profilfördernde Variante von Forschungsplanungsfinanzierung wichtig, um den Zugang zu nationalen und europäischen Forschungsprogrammen zu erhalten.

Der philosophische Wald ist kahler geworden, aber dafür . . .

. . . ist die Aussicht weiter: Laudatio anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Willard V. O. Quine / von Michael Sukale*

Willard Van Orman Quine wurde 1908 in Akron im Staate Ohio, USA, geboren, wuchs dort auf und verbrachte in Ohio auch seine Studentenjahre, die er mit dem Grad eines B. A. (bachelor of arts) abschloß. Aus seiner Jugend sind zwei Lieblingsbeschäftigungen zu erzählen: er sammelte Briefmarken und gab mit einem Freund eine Briefmarkenzeitschrift heraus, und er stach in seinen Ferien die Karten der unmittelbaren Umgebung, in der er sich aufhielt, druckte diese und lief von Haus zu Haus, um sie zu verkaufen. Auf diese Weise hat er sich nicht nur früh Genauigkeit und die Liebe zum Detail anerzogen, er hat auch seine Hobbies unmittelbar mit der Praxis verknüpft. Mir scheint, daß dies ein wenig von dem amerikanischen Geist verrät, der schon von Benjamin Franklin verkörpert worden war. Theorie und Praxis sind bei den Amerikanern seit jeher aus einem Guß und ich meine, daß es eben dieser pragmatische Geist war, der auch bei Quine im Hintergrund wirksam war und ist. Daß ich dies erwähne, hat allerdings noch einen besonderen Grund. In letzter Zeit wird in Amerika Quines Philosophie auf den amerikanischen Pragmatismus zurückgeführt. Es ist aber zu beachten, daß Quine zwar den Gedanken, daß Wissenschaft und Philosophie die gleichen Ziele haben, ebenfalls vertritt, nicht aber die von den Pragmatisten verfochtene Behauptung teilt, daß Wahrheiten gemacht und nicht gefunden werden.

Seinen Ph.D. erwarb Quine 1932 in Harvard, sein Betreuer war A. N. Whitehead, der zusammen mit Russell die Principia Mathematica geschrieben und von 1910 bis 1913 in drei dicken Bänden veröffentlicht hatte. Dieses monumentale Werk der Logik und Mathematik hatte längst Weltruhm erlangt und stand auch hinter Quines Dissertation. Quine ist Zeit seines Lebens in Harvard geblieben, zunächst als Stipendiat, dann, ab 1936 bis heute, als Hochschullehrer. Quine fuhr nach Abschluß seiner Dissertation nach Europa und besuchte zunächst Wien, Prag und Warschau. In Wien trug er im später so berühmt gewordenen Wiener Kreis die Ergebnisse seiner Dissertation vor. In Prag lernte er Rudolf Carnap kennen, und in Warschau besuchte er die polnischen Logiker Lukasiewicz und Tarski. Während dieser kurzen Zeit eignete sich Quine die Grundlagen seiner späteren Logik und Philosophie an, die von der Russells und Whiteheads signifikant abwich. Quine gilt als einer der hervorragendsten Logiker dieses Jahrhunderts. Er hat jedoch von Anfang an die Logik auch von einem philosophischen Standpunkt aus gesehen und diese Sicht um so weiter ausgedehnt, je älter er wurde. Obwohl Quines Reisen nach Europa zu diesem Zeitpunkt zusammen kaum ein Jahr betrugen, waren sie von außerordentlicher Wichtigkeit für seinen späteren Werdegang und wir müssen daher noch einmal auf die Philosophie der Logik zurückgreifen, die Whitehead und Russel unter dem Einfluß des deutschen Mathematikers und Philosophen Gottlob Frege entworfen hatten.

Um sich die Revolution der Logik vor Augen zu führen, die ab Ende des 19. und bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts abrollte, sollte man vielleicht an Kant erinnern, der noch um 1800 herum schreiben konnte, die Logik habe seit Aristoteles keinen Schritt vorwärts und keinen rückwärts gemacht. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Logik jedoch in einem atemberaubenden Tempo. Seitdem ist es möglich geworden, Sätze und ganze Satzzusammenhänge, die bis dahin der logischen Analyse widerstanden, in mathematische Formeln umzuschreiben. Intuitive Beweise wurden durch formale Beweise abgelöst und automatisierbar. Plötzlich war die Möglichkeit gegeben, eine unendliche Anzahl von möglichen Schlüssen von beliebig erweiterbarer Länge auf wenige Axiome und Regeln zu reduzieren. Als es schließlich Russell um 1905 herum gelang, in seiner sogenannten Kennzeichnungstheorie einen großen Bereich der natürlichen Sprache der logischen Analyse zugänglich zu machen, blühte die Hoffnung auf, die Wissenschaften auf mathematische Formeln zu bringen und die gesamte Mathematik ihrerseits auf die Logik zu reduzieren und damit die symbolische Logik zur Grundwissenschaft schlechthin zu machen. Aus eben diesem Geiste war die Principia Mathematica geboren worden.

Was Quine nicht wußte und erst in Wien, Prag und Warschau lernte, war, daß eben diese Hoffnung teils Wirklichkeit geworden war und teils an einem entscheidenden Punkte scheiterte. Rudolf Carnap hatte das Russell-Whiteheadsche Programm auf die Wissenschaften ausgedehnt. Im Wiener Kreis wurde nun der Versuch gemacht, alle Wissenschaften auf einfache Beobachtungssätze zu reduzieren und den systematischen Zusammenhang dieser Sätze den Logikern zu überlassen. Und als Quine in Polen ankam, war Tarski gerade dabei, eine Theorie der Wahrheit vorzulegen, die auf alle formalisierbaren Sprachen ausgedehnt werden konnte und 1936 als Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen erschien. Bei der Frage: Was ist Wahrheit? konnte man sich seitdem nicht mehr die Hände in Unschuld waschen.

Doch dann wurde dieses ganze positivistisch-logische Gebäude an einer entscheidenden Ecke in die Luft gesprengt. Kurt Gödel hatte nämlich 1931 in einem Aufsatz Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme zeigen können, daß nicht einmal die elementare Zahlentheorie auf vollständige logische Axiomen- und Ableitungstheorien zurückgeführt werden konnte, denn er konnte beweisen, daß für jedes gegebene Beweisverfahren für die elementare Zahlentheorie ein Satz dieser nämlichen Zahlentheorie konstruiert werden kann, der genau dann und nur dann wahr ist, wenn er gerade nicht mit dem gegebenen Beweisverfahren abgeleitet werden kann. Damit war die formalistische Hoffnung, ein Verfahren zu finden, mit dessen Hilfe automatisch entschieden werden kann, ob ein Satz der Zahlentheorie wahr ist oder nicht, ein für alle mal begraben und der nichtformalistischen Intuition, die man doch gerade überwunden glaubte, erneut Tür und Tor geöffnet. Um es in einem Satz zusammenzufassen: Kaum hatte sich die Logik als eine Universalwissenschaft ausgeben und scheinbar wieder zu einem System abschließen können, als sie erneut in Fluß kam und sogar um ihre Fundamente fürchten mußte.

Damit ist die Ausgangsposition von Quine in etwa umrissen: das Verhältnis von Logik und Mathematik war wieder einmal ins Schwanken geraten, und auch das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft mußte neu durchdacht werden. Die Frage mußte gestellt werden, ob die Lösung aller philosophischen Probleme durch die Trennung von logischer und empirischer Wahrheit noch tragbar war. Es waren diese Fragen, denen sich Quine stellte und die er mit unermüdlichem Fleiß und zähem Eifer zu einer Lösung führte. Man kann mit Recht sagen, Quine habe einige Lieblingsthesen gerade der deutschen Philosophie nicht nur bloß auf den Kopf gestellt, sondern einfach weggeschnitten. Gewiß, der philosophische Wald ist kahler geworden, aber dafür ist die Aussicht weiter.

Berühmt geworden ist Quine durch drei Behauptungen, die er 1953 und 1960 in seinen beiden bekanntesten Büchern - From a Logical Point of View und Word and Object - publik gemacht hat. Alle drei Behauptungen sind scheinbar nur sprachphilosophischer Art, aber sie haben weitreichende Konsequenzen. Alle drei Behauptungen will ich daher kurz benennen und begründen.

Seit Aristoteles kein Fortschritt in der Logik

1. These: Sein heißt der Wert einer gebundenen variable sein.

Dieser etwas kryptische Satz wird von Quine in seinem Aufsatz On What There Is 1948 aufgestellt und beschäftigt sich mit der Frage, welche Seinsarten man akzeptieren muß, um wahre Sätze behaupten zu können. Nach der alten Logik, wonach eine Eigenschaft immer einem Objekt zu- oder abgeschrieben werden mußte, schien der Satz "Das Einhorn ist weiß" doch das Einhorn in einem gewissen Sinne als vorgestelltes oder gedachtes Sein akzeptieren zu müssen, damit man ihm die Eigenschaft weiß zu sein zusprechen konnte, obwohl es bekanntermaßen nicht existiert. Das führt aber dazu, daß man einem irgendwie nicht-wirklich Seiendem eine wirkliche Eigenschaft zuerkennt und mündet darin, daß man allem, das man sich ausdenkt, irgendwie ein Sein zuerkennt und daher Ockhams Messer unterläuft, wonach man kein Sein zulassen soll, was nicht unbedingt nötig ist. Quine hat die Strategie von Russels Kennzeichnungstheorie noch radikalisiert: In seiner Logik kann das logische Subjekt so aufgespalten werden, daß es aus einem Prädikat und einer Variablen besteht. Der Satz "Das Einhorn ist weiß" wird einfach umgeformt zu "Es gibt etwas, das ist ein Einhorn und ist weiß". Dieser Satz ist nun einfach falsch - ohne irgendein außerwirkliches Seiendes zu postulieren. Quine hat damit die Ontologie von dem Zwang befreit, ein zweifelhaftes Sein anerkennen zu müssen, nur weil es unsere Sprache zu verlangen scheint. Quine hat mit diesem Spruch die Ontologie nicht eingeengt, sondern ihr den Platz zugewiesen, der ihr eigentlich zukommt, nämlich dafür zu sorgen, daß unsere wahren Behauptungen über die Welt ohne Not aufgestellt werden können - nur soviel Sein muß sein!

Lieblingsthesen auf den Kopf gestellt

2. These: Es gibt keinen beweisbaren Unterschied zwischen analytischen und synthetischen Sätzen.

Was sind eigentlich analytische und synthetische Sätze? Die Unterscheidung rührt von Leibniz und Kant her und unser guter Kant hatte sein Hauptwerk, die Kritik der reinen Vernunft, auf diesem Unterschied aufgebaut. Sätze, die aufgrund der verwendeten Wortbedeutungen wahr sind, sind analytische Sätze, zum Beispiel ist der Satz "Die Kugel ist rund" deswegen wahr, weil der Begriff oder die Bedeutung von "rund" im Begriff "Kugel" schon enthalten ist. Man sagt auch, daß solche Sätze "logisch wahr" sind. Aber der synthetische Satz "Die Erde ist rund" ist zwar auch wahr, aber nicht aufgrund der verwendeten Bedeutungen, denn im Begriff "Erde" ist der Begriff oder die Bedeutung von "rund" nicht enthalten, und wir haben mehr als einmal hinsehen müssen, um die Wahrheit des Satzes zu ermitteln. Man sagt auch, daß solche Sätze "empirisch wahr" sind.

Eines der Hauptmotive, diesen kantischen Unterschied überhaupt zu machen, besteht darin, daß man empirische Sätze als aufgrund von Erfahrungen revidierbar ansieht, analytische und logische Wahrheiten aber als von der Erfahrung unabhängig erachtet. Nach Quine ist jedoch der Übergang von empirischen zu analytischen Aussagen kein sprunghafter, sondern ein gradueller. Grundsätzlich sind daher auch logische Wahrheiten aufgrund von Erfahrung revidierbar. Der Unterschied ist nur, daß logische Wahrheiten in unserem Überzeugungssystem fester und zentraler verankert sind als empirische Verallgemeinerungen oder einzelne Erfahrungssätze. Quine spricht selbst vom Ganzen unserer Erkenntnisse als einem Kraftfeld, dessen Randbedingungen die Erfahrungen sind. Wird eine Erfahrung gemacht, die dieses Feld erschüttert, so können entweder die peripheren Sätze, also die Beobachtungen, diskreditiert werden oder die zentralen Wahrheiten aufgegeben werden, so zum Beispiel diejenigen der Logik - so merkwürdig dies auch klingen mag.

Quine ist ein Holist, das heißt, er will nicht über die Sätze einzeln reden und urteilen, sondern hat stets den gesamten Kontext vor Augen. Mit Quines Behauptung wird die Grenze zwischen Logik und Erfahrung verwischt und außerdem werden sprachliche Bedeutungen überflüssig, sofern sie den Unterschied zwischen analytischen und synthetischen Sätzen begründen. Diese These stellte Quine 1951 in seinem vielleicht berüchtigtsten Aufsatz Two Dogmas of Empiricism auf. Sie machte Quine auch in Deutschland sofort berühmt.

Logische Wahrheiten sind revidierbar

3. These: Es kann keine eindeutigen Übersetzungen geben und es ist nicht grundsätzlich entscheidbar, ob eine von mehreren Übersetzungen die beste oder die bessere ist.

Diese These stellte Quine in seinem Hauptwerk Word and Object auf und sie machte ihn noch berühmter, als er sowieso schon war. Sie ist aber noch immer umstritten, und es ist behauptet worden, daß sie in etwa den Rang von Kants transzendentaler Deduktion habe. Die These hat weitreichende Konsequenzen, die man sich sofort klar macht, wenn man bedenkt, daß alle Kommunikation zwischen Menschen daran hängt, daß sie ihre Überzeugungen und Erfahrungen ohne zu große Mißverständnisse austauschen können.

Quine kann zu Beginn seiner Argumentation auf die Ergebnisse von Two Dogmas of Empiricism zurückgreifen: Er kann davon ausgehen, daß es keine scharfe Grenze zwischen empirischen und analytischen Aussagen gibt. Wenn es daher so etwas wie die Bedeutung eines Satzes gibt, dann muß sie anhand irgendwelcher empirischer Tatsachen definierbar sein. Quine zeigt, daß Sätze, die weiter von der Erfahrungssphäre entfernt sind, entsprechend schwerer zu übersetzen sind. Dies zeigt die sogenannte Unbestimmtheit der Übersetzung. Diese These wurde zu einem Zeitpunkt vertreten, als die Linguisten glaubten, sie könnten alle Sprachen über einen Kamm scheren und sich bemühten, sie alle ineinander übersetzbar zu machen. Quines These könnte erklären, warum eine vollautomatische Übersetzungsmaschine noch nicht in Aussicht steht. Daß es keine entscheidbar beste Übersetzung gibt, impliziert jedoch nicht, daß man die Übersetzung besser lassen sollte. Also gilt auch hier und zum dritten Male: Quine befreit uns von einem Zwang, diesmal von dem Zwang, perfekt sein zu wollen.

Ich habe mich auf nur drei Thesen Quines beschränkt, die weltweit rezipiert worden sind. Daß er sich außerdem in vielen wichtigen Publikationen bemüht hat, alle möglichen angrenzenden Probleme zu lösen, von rein mathematisch-logischen bis hin zu Problemen der Spracherwerbung, der künstlichen Intelligenz und der Kommunikation, davon zeugen die mehr als zwanzig Bücher, die Quine veröffentlicht hat, von denen viele überall auf der Welt verbreitet sind und einige als Lehrbuch verwendet werden. Sein neuestes Buch erschien 1995, als er schon 87 Jahre alt war, und zur Zeit sitzt er schon wieder an einem Buchprojekt. Wir können uns glücklich schätzen, daß er sich die Zeit genommen hat, für uns einen Vortrag auszuarbeiten und sich die Mühe gemacht hat, hierher zu kommen.

Quine ist nicht nur einer der bekanntesten lebenden Philosophen, wir können so kurz vor der Jahrhundertwende auch schon getrost sagen, daß er unbestritten einer der größten Philosophen des vergehenden Jahrhunderts ist. Er hat sich um eine Richtung der Philosophie verdient gemacht (Logik und Sprachphilosophie), die in Deutschland mit Gottlob Frege ihren Anfang genommen hatte und danach in England, Österreich und den USA fortgeführt wurde. Seine philosophischen Ergebnisse sind auch im Widerstreit eng mit der deutschen Philosophie verbunden. Er hat eine fast unabzählbare Menge an Ehrungen und Preisen in aller Welt bekommen, aber noch keinen Ehrendoktor einer deutschen Universität. Wenn er nun Ehrendoktor der hiesigen Universität im Fachbereich 5 geworden ist, so nicht nur, weil sein Geist auch durch Teile des neuen Institutes für Philosophie weht, sondern weil die Carl von Ossietzky Universität hiermit auch im Namen der deutschen Philosophie handelt, die nach einer unwürdigen Unterbrechung durch das Naziregime langsam wieder auf die Beine kommt und sich sowohl europaweit als auch international wieder rührt. Hiervon geben unter anderem die neuen Karl Jaspers Vorlesungen und die Karl Jaspers Preise der Universität Zeugnis, die in diesem Jahr zum ersten Mal vergeben werden. Es gereicht der Universität zur Ehre, daß Quine die neuen Vorlesungen einleiten und die Urkunden an die Preisträger überreicht hat.

* Prof. Dr. Michael Sukale ist Leiter des Instituts für Philosophie

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(Stand: 19.01.2024)  | 
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