Kontakt

Presse & Kommunikation

+49 (0) 441 798-5446

Hochschulzeitung UNI-INFO

UNI-INFO

Thema

Der Sinn im Unsinn

oder: Die realistische StudentInnen-Generation von K. Gerlof, T. Schulz, G. Krull, T. Gieselmann

Inmitten der teils unverbindlichen, teils verschulten, jedenfalls ständig zusammengekürzten Hochschulrealität haben viele Studierende erstaunlich kreative Wege gefunden, für sich sinnvoll zu studieren. Eine nähere Betrachtung dieser Wege mit Methoden der qualitativen Sozialforschung zeigt, daß viele auch öffentlich lancierte Vorurteile über Studierende nicht greifen, und gibt Hinweise darauf, warum es trotz gekürztem BAFöG, verschärften Bedingungen für die Kindergeldzahlung und der immer konkreter werdenden Diskussion um Studiengebühren kaum zu Protesten von studentischer Seite kommt. Das studentische Projekt 22 ist den Veränderungen in der Lebenswelt Studierender in einer qualitativ-empirirschen Studie nachgegangen.

Der Fall ist konstruiert: Britta hat eine Ausbildung als Werbekauffrau absolviert und arbeitet in einer Hamburger Werbeagentur. Sie hatte Glück, daß die Firma ihr eine Teilzeitanstellung ermöglichte, so daß sie an der Uni Hamburg ein Völkerkunde-Studium beginnen konnte. Dies entspricht ihren persönlichen Interessen, es kann aber durchaus auch beruflich von Nutzen sein, sich in anderen Kulturen und fremden Sprachen auszukennen.

Jeder kennt Studierende, die nicht nur Studierende sind: Manche jobben schlicht aus Geldmangel, andere sind neben dem Studium Unternehmer mit Softwarefirma oder Planungsbüro. Sie sind nur die schillerndsten Vertreter einer Studentengeneration, die so gar nicht mehr den klassischen Vorstellungen entspricht. Der Soziologe Hondrich hat sie die Generation der "Auch-Studierenden" genannt. Nach seinen Beobachtungen gehen viele Studierende heute sehr bewußt mit den Studienangeboten um, fragen sich immer wieder nach dem individuellen Nutzen der besuchten Veranstaltungen, hassen es, ihre Zeit zu verschwenden.

Studium als Projekt einer Wunschbiographie

In den letzten Jahren ist in vielen Fächern nicht mehr die Kapazität an Studienplätzen Haupthindernis für einen Studienbeginn. Vielmehr müssen sich aufgrund der düsteren Arbeitsmarktlage und der nicht mehr vorgezeichnet konventionellen Berufswege für Akademiker viele Studienanfänger genau überlegen, ob ein Studium im gewünschten Fach überhaupt noch Wege zur anvisierten beruflichen Zukunft eröffnet. Auch wenn das Studium zunächst vielfach als Orientierungs- und Nachdenkphase gewählt wird, sehen Studierende sich in dessen Verlauf vor die Aufgabe gestellt, dem Studium eine Bedeutung in der individuellen Biographie zuzuweisen, da diese Zuweisung immer weniger durch Traditionen der Herkunft oder des Faches vorgegeben ist. Dieses Wahlpflicht-Phänomen ist auch auf andere Bereiche in modernen Gesellschaften übertragbar. Besonders der Soziologe Ulrich Beck weist mit seiner Theorie der wachsenden Individualisierung moderner Gesellschaften auf den weitreichenden sozialen Wandel seit den 60er Jahren hin, der den Einzelnen immer mehr dazu zwingt, sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsbüro im Bezug auf den eigenen Lebenslauf, die eigenen Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen. Doch was einerseits neue Wahl- und Entfaltungsmöglichkeiten bietet, beinhaltet andererseits den Verlust von Sicherheiten und Routinen und letztlich das Risiko zu scheitern, die Schattenseite der Individualisierung.

Vielfalt durch Öffnung der Hochschulen

Die Individualisierung steht im engen Zusammenhang mit der Pluralisierung von Milieus und Lebensstilen. Eine Ursache hierfür liegt neben Optionssteigerungen durch höhere Einkommen und dem Wertewandel u.a. auch darin, daß die klassischen sozialen Rekrutierungsmechanismen in vielen Fächern nicht mehr gelten. Dies hat viele fortschrittliche Entwicklungen gebracht: Der Anteil von Frauen, Eltern, Teilzeitstudierenden an den Studierenden ist stark angestiegen. Jedoch bringt stärkere Wahlfreiheit nicht unbedingt mehr Gerechtigkeit mit sich: Die Gefahr des Scheiterns im Studium ist größer denn je, wie die in einigen Fächern sehr hohen und steigenden Studienabbrecherzahlen belegen. Diejenigen, die aufgrund ihrer privilegierten sozialen Herkunft noch eine recht sichere Ausgangsposition haben, können dieser Gefahr eher entgehen und ihr aktiv begegnen, was sich daran zeigt, daß der Anteil der Kinder aus klassischen Arbeiterfamilien in den letzten Jahren sinkt. Hier deuten sich bei schlechter gewordenen ökonomischen Rahmenbedingungen neuerdings wieder soziale Schließungstendenzen an den Hochschulen an.

Enttradionalisierung:Kein Gruppengefühl

Die Massenhochschule zwingt die Studierenden auch auf der alltäglichen Ebene dazu, individuelle Studienstrategien zu entwickeln. Während in den angelsächsischen Ländern vielleicht noch vom orientierenden Rückhalt durch eine Universitätsgemeinschaft gesprochen werden kann, kann von einem halbwegs einheitlichen akademischen Habitus, der bestimmte Studienstile hervorbringt, in Deutschland kaum gesprochen werden. Einzelne Fächer mit stark standardisiertem Curriculum und Prüfungsformen bilden hier vielleicht eine Ausnahme, generell jedoch ist das Zurechtkommen mit der Massenhochschule in Deutschland zu einer persönlichen Such- und Orientierungsaufgabe für die Studierenden geworden, die auch angenommen wird. Dies bestätigen jüngste Studien, in denen nur ein Viertel der Studierenden angeben, sie fühlten sich primär als künftige Wissenschaftler, dagegen sehen sich 70 % eher als Lebenskünstler oder Manager, die das durchziehen, was sie sich vorgenommen haben.

Studium ist nur ein Lebensbereich

Individualisierung und Pluralisierung rufen bei allen Studierenden einen Zwang hervor, des eigenen Glückes Schmied zu werden, die Zeit des Studierens hausgemachten, extrinsischen Sinngebungen, z.B. der eigenen Qualifizierung, zu unterwerfen. Einige Studierende mit Lebensentwürfen abseits vom Normalstudenten müssen zusätzlich Job, Familie usw. mit ihrem Studium vereinbaren. Dies alles führt dazu, daß die Hochschule ihre Bedeutung als zentraler Ort in der Lebenswelt im Biographieabschnitt "Studium" verliert. Sie wird mehr als institutionelles Gebilde mit systemischen Charakter angesehen. Dies läßt z.B. Schlüsse darauf zu, wieso sich so wenige Studierende in den Unigremien engagieren oder kaum studentische Proteste z.B. gegen Studiengebühren aufkommen. Die Gestaltung der Hochschule wird um so unwichtiger, je mehr jene an lebensweltlicher Bedeutung einbüßt. In Umweltgruppen, Bürgerinitiativen und Sportvereinen ist durchaus idealistische Betätigung möglich, die auch über die Studienzeit hinaus erhalten bleibt und mehr direkte, persönliche Befriedigung verspricht. Direktes Feedback und das Knüpfen von Bekanntschaften und Freundschaften steht bei jungen Menschen, die sich engagieren, heute im Vordergrund, wie z.B. die gerade erschienene Shell-Jugendstudie zeigt.

Distanz zum Wert der Wissenschaft

Nicht nur die Hochschule als lebensweltlicher Bezugspunkt, sondern auch die Wissenschaftlichkeit als gemeinsames übergeordnetes Ziel mit dem Nimbus des Objektiven und gesellschaftlich Nutzbringenden verliert heute bei den Studierenden an Bedeutung. Dies steht in Einklang mit einem tiefen gesellschaftlichen Mißtrauen gegenüber wissenschaftlichen Arbeits- und Erkenntnisweisen, einer Entwicklung, die von Beck, aber auch anderen Soziologen wie Giddens oder Lash, als "Reflexive Modernisierung" bezeichnet wird und in Zusammenhang steht mit dem Tschernobyl-Schock, der Gentechnik-Debatte, aber auch dem Ansehensverlust wissenschaftlicher Expertisen, die für nahezu alle noch so unsinnigen schädlichen Planungsvorhaben leicht einkaufbar erscheinen.

Für die Studierenden dürfte dies zur Folge haben, daß nicht mehr das tiefe Eintauchen in die Wissenschaft, sondern eher das souveräne Umgehen mit ihr und dem Studium für gesellschaftliche Anerkennung sorgt und von Eltern, Freunden und anderen Bezugspersonen akzeptiert wird.

Zusammengefaßt erfüllen die "Auch-Studierenden" mit ihren außeruniversitären Aktivitäten und Bezugspunkten eine wichtige Integrationsfunktion zwischen Hochschule und Gesellschaft, diese erfüllen sie jedoch individuell, pragmatisch und weitgehend unbemerkt.

Der offensive und der defensive Typ

Viele der dargelegten Entwicklungen sind uns erst im Verlauf unserer empirischen Studie deutlich geworden, insbesondere in ihren Auswirkungen auf die Alltagspraxis. Wir hatten sechs Studierende aus den Fächern Chemie und Sozialwissenschaften etwa zur Halbzeit ihres Studiums mündlich befragt.

Das Schlimmste für die befragten Studierenden ist, plötzlich "in der Luft zu hängen" und nicht voran zu kommen. Hier läßt sich vermuten, daß die seit längerem öffentlich geführte Studienzeitdebatte ihre Wirkung zeigt. Die Studienzeit soll möglichst kurz und effizient sein.

Der durch den Arbeitsmarkt erzeugte Zwang, sich möglichst schnell und gut zu qualifizieren, ruft entweder eine defensive oder eine offensive Reaktion und ein entsprechendes Rollenverständnis hervor. Die defensiven Studierenden versuchen gewissermaßen, sich kein Versäumnis zu schulden kommen zu lassen: Sie studieren "ganz normal", wie es der Studienplan vorsieht und viele andere Kommilitonen es auch tun. Die ganze Kraft wird auf das eigene Fach konzentriert, transdisziplinäre Ausflüge als unnötig angesehen. So wird das Fach zum Schutzraum. Die Anforderung besteht darin, im Fachzusammenhang nicht den Anschluß zu verlieren. Dieser Typus betrachtet die komplexer gewordenen Verhältnisse in der Hochschule und wohl auch in der Gesamtgesellschaft (Individualisierung, Arbeitsmarktkrise) eher mit Unbehagen und empfindet permanente Überforderung.

Die anderen, die offensiver reagieren, entsprechen eher den Hondrichschen "Auch-Studierenden". Diese Studierenden haben oft Kritik an der Lehrpraxis im Fach und allgemein an den Zuständen an der Hochschule wie z.B. der Anonymität. Als individuelle Ausweichreaktion sondieren sie die Angebote besonders streng und beziehen ihre Befriedigung eher aus dem Selbststudium oder den außerhochschulischen Aktivitäten, die jedoch bewußt im Zusammenhang mit der eigenen Qualifikation gewählt werden. Ihre Kritik an der Hochschule mündet aber nicht in den klassischen Protestformen. Mit ihrer Strategie nutzen sie von der Institution Hochschule, was für sie wichtig ist. Aktivitäten in einer Menschenrechtsgruppe werden wichtiger genommen als das Studium, für ein überregionales Treffen von Amnesty International läßt man auch mal ein Seminar sausen. Viele Außenkontakte zu knüpfen ist wichtig: Für das eigene Lebensgefühl, aber auch weil es nützlich für Praktikumsplätze und spätere Berufschancen sein kann.

Bei all dem ist erstaunlich, daß keine der beschriebenen Strategien mit einem Konkurrenzdenken oder einer Ellenbogenmentalität einhergehen müssen. Trotz der sehr individuellen Wege durch das Studium schien uns eher ein solidarisches Umgehen mit Kommilitonen vorherrschend. Schließlich fand auch die Annahme eine Bestätigung in den Antworten unserer Probanden, daß nicht mehr das tiefe Eintauchen in die Wissenschaft, wie es noch für die traditionelle Studentenrolle typisch war, das Studienverhalten bestimmt, sondern das vielmehr das souveräne und eher instrumentelle Umgehen mit ihr in den Vordergrund gerückt ist.

Hochschule: Kein wichtiger Lebensbereich

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das Studium zwar als Qualifizierungszeitraum in der Biographie der Studierenden einen wichtigen Platz einnimmt, jedoch die Hochschule als Ort der Qualifizierung eher von geringer Bedeutung ist. Wir wollen unsere Arbeit fortführen, indem wir gemeinsam mit anderen Projektgruppen die Lebenswelten der Studierenden in mehreren Uni-Städten im Vergleich erforschen. Deshalb ist das Projekt auch jetzt noch offen für weitere Interessierte. Daß der Aufwand gerechtfertigt ist, zeigt beispielhaft die kuriose Diskussion, die im September um den CDU-SPD-Entwurf des neuen Hochschulrahmengesetzes geführt wurde: Da ist von großen Erfolgen für die Studierenden die Rede, wenn die ZVS-Zulassungskriterien verändert werden oder das Studium zeitlich und inhaltlich weiter verkürzt wird. Nicht nur, daß die vermuteten Bedürfnisse der Studierenden ungefragt zur Begründung solcher Neuerungen herhalten müssen. Gewichtiger ist noch, daß sich hinter diesen Reformideen noch immer das antiquierte Bild des (zumeist männlichen) Vollzeit-Normalstudenten steht, der direkt nach dem Abitur ein Studium beginnt.

Neuerdings wird oft von Kundenorientierung der Hochschulen gesprochen, ein Wort, das die Studierenden in eine Konsumentenrolle ohne direkte Mitspracherechte drängt. In der Umsetzung sah das dann so aus, daß Veranstaltungszeiten in die Abendstunden verlegt wurden, damit mehr Berufstätige teilnehmen können, oder der Lehrstoff auch im Internet abgelegt wird, damit man zum Studieren nicht in die Uni kommen muß. Sinnvoller wäre es, sich ein genaues Bild von den Lebenshintergründen der Studierenden zu machen, um sich dann zu überlegen: Wie können Studienprogramme aussehen, die einen Bildungsanspruch mit den hier skizzierten Lebenshintergründen in Übereinstimmung bringen?

Der Artikel, der von StudentInnen verfaßt wurde, basiert auf dem Aufsatz: Der Sinn im Unsinn. Skizzen aus der Shampoo Universität. In: Quer zu den Disziplinen. Beiträge aus der Sozial-, Umwelt- und Wissenschaftsforschung/Arbeitsgruppe Interdisziplinäre Sozialstrukturforschung (agis). Hrsg.: Uta Loeber-Pautsch u.a. Hannover, Offizin Verlag 1997. Der Abschlußbericht zu dem Forschungsbericht liegt als Manuskript vor. Kontakt: Dr. Reinhard Schulz, Zentrale Studienberatung.


(Stand: 19.01.2024)  | 
Zum Seitananfang scrollen Scroll to the top of the page