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Welche Demokratie brauchen die Hochschulen?

Plädoyer für neue Strukturen und ein neues Bewußtsein für die Hochschulen der Zukunft / Von Hans-Jürgen Otto*

In der Diskussion um eine Neuorientierung der Hochschulstrukturen spielen interne und externe Leistungsstrukturen eine wichtige Rolle. Dazu zählen die Stärkung und "Professionalisierung" des Präsidiums und der Dekane sowie die Einrichtung von "Hochschulräten" als neuen Aufsichts- oder wenigstens "Referenz"-Organen zwischen Staat und Hochschule. Diskutiert werden auch Globalhaushalte, Leistungsindidaktoren für die Mittelvergabe und vieles andere mehr. Gegen diese Konzepte wird häufig eingewandt, sie orientierten sich zu sehr am "Wirtschafts"-Modell (Management, Vorstand, Aufsichtsrat und betriebwirtschaftliche Effizienz), das auf die ganz anders strukturierten und am Gemeinwohl orientierten Hochschulen so nicht übertragbar sei. Sie achteten zu wenig die "Autonomie" der Hochschulen, weil - nach teilweisem Rückzug des Staates - dessen Kompetenzen nicht an die Hochschule selbst, sondern an neue externe Organe fielen; und sie seien "undemokratisch", weil sie die Zuständigkeiten der gruppenparitätischen Hochschulorgane schwächten.

 Die neuen Konzepte brechen zweifellos mit vielen deutschen Hochschultraditionen. Sie sind allerdings nicht direkt aus der Wirtschaft abgeleitet, sondern fußen auf ausländischen Hochschulssystemen - auch, aber nicht nur solchen, die privatwirtschaftlich organisiert sind. Sie sind überwiegend von Staatsseite initiiert. Einerseits aus der wohl richtigen Erkenntnis heraus, daß die traditionellen staatlichen Globalsteuerungsmechanismen in vielen Bereichen versagt haben. Andererseits aus der problematischen politischen Strategie heraus, sozialstaatliche Verantwortung in weiten gesellschaftlichen Bereichen einzuschränken. Hauptursache für die neuen Konzepte dürfte allerdings das Versagen der deutschen Hochschulen selbst sein, ihre Entwicklung so zu gestalten, daß sie breite gesellschaftliche Anerkennung dafür finden.

 Die neuen Konzepte sollten nicht danach beurteilt werden, inwieweit sie Steuerungsinstrumenten in der Wirtschaft ähneln. Kriterium müßte sein, ob sie für den Hochschulbereich funktional sind, ob sie die Selbststeuerungsfähigkeit der Hochschulen fördern.

Staatliche Demokratiekriterien

Orientieren wir uns am Demokratiemodell der Bundesrepublik, so impliziert dies z.B. eine Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive, in der letztere mit so umfangreichen Kompetenzen ausgestattet ist, wie sie wohl kein Konzept für ein Hochschulpräsidium haben will. Die Kompetenzen der Exekutive sind allerdings mit entsprechenden Rechenschaftspflichten gegenüber und der Abwahlmöglichkeit durch die Legislative gekoppelt.

Dieses Demokratiemodell impliziert z.B. auch ein Zweikammersystem der Legislative mit Bundestag und Bundesrat, das - übertragen auf die Hochschule - das undemokratisch geziehene "Dekanekollegium" ähnlich stark machen würde wie den Senat. Zu den traditionellen Rechten einer Legislative gehört das Haushaltsrecht - allerdings nicht nur als Recht, über die Staatsausgaben zu entscheiden, sondern verbunden mit dem Recht, entsprechende Einnahmen als Steuern zu erheben. Insofern war die frühere detaillierte Aufstellung der Hochschulhaushalte durch die staatliche Legislative mit nur geringen Spielräumen für die Hochschule durchaus "demokratisch". Eine Übertragung des Haushaltsrechtes auf die Senate der Hochschulen ist, wenn sie nicht gleichzeitig auch verantwortlich für entsprechende Einnahmen der Hochschule werden, nicht notwendige Konsequenz dieser demokratischen Tradition, ebensowenig wie eine Übertragung des Haushaltsrechts auf die Hochschulleitungen, Dekane oder gar Hochschulräte undemokratisch wäre, wenn diese gleichzeitig verantwortlich würden für die Aufbringung der Mittel und für die Effektivität ihrer Haushaltsführung.

 Mit der Übertragung von Haushaltskompetenzen an die Hochschulen ist nicht notwendig verbunden, daß diese von hochschullehrerdominierten Gremien wahrgenommen werden, weil das Bundesverfassungsgericht hier keine Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit gesehen hat. Aber daraus folgt ebensowenig die notwendige demokratische Konsequenz, z.B. viertelparitätische Gremien für Haushaltsangelegenheiten zu schaffen. Demokratische Legitimität läge eher vor, wenn die Budgetierung dem Präsidenten oder einem externen Hochschulorgan übertragen würde, wenn diese dann gegenüber dem Ministerium und Landtag rechenschaftspflichtig sind.

 Zur Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive im staatlichen Bereich gehört, daß die Legislative - abgesehen vom Budgetrecht - nur allgemein geltende Normen erlassen kann. Sämtliche Einzelentscheidungen werden allein von der Exekutive getroffen. An den Hochschulen ist eine solche Gewaltenteilung bisher kaum üblich: Selbst kleinste Einzelfallregelungen werden von den paritätischen Kollegialorganen beansprucht oder - wegen Entscheidungsunfähigkeit - von den Exekutivorganen an die Legislative abgeschoben. Ist das "demokratischer"?

Alle staatlichen Demokratiemodelle setzen auf Parteien als Mittler zwischen Wahlvolk und politischer Entscheidungsebene, wobei mehrheitsfähig nur diejenigen Parteien sind, die nicht nur Partialinteressen vertreten. Im Hochschulbereich sind die politischen Gruppen noch weitgehend nach den Statusgruppen gegliedert. Die Orientierung am Gemeinwohl der Hochschule oder gar der sie tragenden Gesellschaft ist wenig ausgeprägt.

Alle Demokratiemodelle sehen als Grundprinzip, daß jeder Mensch sich mit gleichem Recht und Gewicht an Wahlen beteiligen kann und daß in den repräsentativen Legislativorgaben sich die Mehrheitsverhältnisse im Wahlvolk spiegeln. Im Hochschulbereich gilt dies auch nach der "Demokratisierung" der Hochschulen in den 70er Jahren nicht - und zwar nicht deswegen, weil die kleinste Gruppe ihrer Mitglieder, die ProfessorInnen, von vornherein immer die Mehrheit in den Kollegialorganen hat, sondern weil die Sitzverteilung überhaupt am Status der Mitglieder festgemacht wird. Das ist kein demokratisches, sondern ein ständisches Modell - und es würde um keinen Deut demokratischer, wenn die Studierenden etwa gleich viele Sitze im Senat erhielten wie die ProfessorInnen.

 Diese Demokratiemodelle gehen traditionell von einer Trennung zwischen Staat und Gesellschaft aus, bei der der Staat nicht in alle Angelegenheiten der Gesellschaft und seiner Bürger hineinregieren darf, auch dann nicht, wenn er dazu von Mehrheiten demokratisch legitimiert wird. Und typisch auch für demokratische Gesellschaften sind große staatliche Apparate, die "fremdgesteuert" werden von der Gesellschaft über Wahlen und Repräsentationsorgane, aber nicht "selbstverwaltet" werden von den Mitgliedern der staatlichen Apparate. Daraus leitet sich - demokratisch durchaus legitimiert - die hierarchische Struktur der Behördenapparate ab, die so auch Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht der Exekutive gegenüber der Legislative ermöglicht.

Die Hochschulen sind nun beides: Gesellschaftliche Einrichtungen (Körperschaften mit dem spezifischen Grundrecht der Wissenschafts- und Kunstfreiheit) und staatliche Anstalten (mit vorgegebenen Dienstleistungsaufgaben). Wenn man den körperschaftsrechtlichen Charakter der Hochschule stärkt und allen ihren Mitgliedern - neben ihrer individuellen Wissenschaftsfreiheit - ausreichende Teilhabe- und Mitbestimmungsrechte zugestehen will, wird man die ständischen Vorrechte der ProfessorInnen reduzieren müssen. Aber auch wenn man den Charakter der Hochschulen als staatliche Anstalten weiter zurückschraubt, so bleiben sie doch Erfüllungsgehilfen staatlicher Aufgaben, können sich deshalb nicht vollständig selbst verwalten, sondern müssen demokratisch legitimierte Fremdverwaltung und Hierarchien zu ihrer Durchsetzung akzeptieren.

 Diese Beispiele machen deutlich, wie stark - trotz aller Unterschiede zwischen den Organisationsstrukturen von Staat und Hochschule - die Begrifflichkeit der Hochschulselbstverwaltung an staatlichen Denkmustern orientiert ist und wie wenig alternative Strukturen aus der Gesellschaft in die Hochschulen Eingang gefunden haben.

Gesellschaftliche Demokratiekriterien

Außerhalb des staatlichen Sektors haben auch demokratische Gesellschaften andere Strukturen entwickelt: z.B. den Wettbewerb, den Markt, die Öffentlichkeit, die Vertragsfreiheit, aber auch die Bildung von Verbänden zur Wahrung von Interessen ihrer Mitglieder, die sich untereinander streitig auseinandersetzen und Kompromisse aushandeln. "Demokratisch" sind diese gesellschaftlichen Strukturen nicht im staatlichen Sinne, nämlich daß sich Mehrheiten gegen Minderheiten durchsetzen können. Statt dessen ist Kriterium, ob alle Gesellschaftsmitglieder in gleicher Weise "partizipieren" können, also ob sie Zugang zum Wettbewerb, zum Markt, zur Öffentlichkeit, zum freien Vertragsabschluß und zur Bildung von Verbänden haben. In der gesamten Gesellschaft, nicht nur in der Wirtschaft, produzieren solche gesellschaftlichen Prozesse gleichwohl nicht nur Egalität, sondern hierarchische Strukturen, Gewinner und Verlierer.

 Damit soll nicht gesagt sein, daß unsere gegenwärtigen staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen in Deutschland besonders demokratisch sind. Aber gleichwohl gilt es, für die Hochschulen Strukturen zu entwickeln, die sich nicht nur am staatlichen Demokratiemodell orientieren. Die Hochschulen müssen sich also mehr als gesellschaftliche Einrichtungen verstehen, müssen Markt und Vertrag, Wettbewerb und Öffentlichkeit als gesellschaftliche Strukturen ihrer Arbeit verstehen. Deshalb ist es wichtig,

 • die Funktionen und Verantwortlichkeiten, Rechte und Pflichten der Hochschulmitglieder innerhalb und zwischen den einzelnen Gruppen neu zu bestimmen,

 • die Willensbildungsstrukturen in den Hochschulen neu zu ordnen,

• geregelte Verfahren für die staatliche Finanzierung und Aufgabenzuweisung an die Hochschulen zu finden und

• eine verbindliche Kommunikation der Hochschule mit Staat und "Gesellschaft" zu sichern, die alle füreinander wichtig macht und trotzdem individuelle Wissenschaftsfreiheit wie institutionelle Hochschulautonomie wahrt.

Hochschulinterne Entscheidungsstrukturen

Die hochschulinternen Entscheidungen über Lehre und Studium werden bisher vom Fachbereichsrat mit Professorenmehrheit und minimaler Beteiligung der Studierenden getroffen. Sie werden vorbereitet von Studienkommissionen, in denen die Studierenden besser vertreten sind.

Als Alternative bietet sich an, daß Lehrende und Studierende getrennt voneinander ihre Interessen ausformulieren und dann streitig untereinander aushandeln - nach dem Modell von Tarifverhandlungen: Beide Seiten stehen unter Einigungsdruck, weil Lehre und Studium sonst nicht stattfinden. Beide Seiten können den Streik zur Durchsetzung ihrer Forderungen einsetzen. Beide Seiten versuchen - gegebenenfalls unter Zuhilfenahme einer Schlichtung -, Kompromisse auf Zeit auszuhandeln. Beide Seiten müssen ihre spezifischen Interessen demokratisch innerhalb ihrer Gruppen bestimmen, beide Seiten können ihre Interessen nicht ohne Einigung mit der Mehrheit der anderen durchsetzen. Auf diese Weise würde ein explizit nicht-staatliches, sondern gesellschaftliches Modell demokratischer Entscheidungsbildung gewählt.

Hochschulinterne Kontrolle

Die Einhaltung von Regelungen über die Lehre wird derzeit nur minimal kontrolliert. Weder eine Aufsicht durch den Dekan noch eine kollegiale Kontrolle findet in nennenswertem Umfang statt, Rückmeldung von Studierenden ist noch selten. Ähnliches gilt für die Regelungen des Studiums, wo verbindlichere Verhaltenscodizes und Leistungskriterien weder unter den Studierenden gelten noch von den Lehrenden - außerhalb von Prüfungen - eingefordert werden. Insgesamt sind Lehre und Studium ein weitgehend unverbindliches und chaotisches System ohne funktionierendes Feedback, weitab von den papierenen Regelungen (was nicht so schade ist).

 Alternative: Dekane erhalten alle aufsichtlichen Befugnisse, die ausgehandelten Regelungen für die Lehre bei den Lehrenden durchzusetzen und Beschwerden rigoros nachzugehen. Studierende sollen regelmäßig nach jedem Semester jede Veranstaltung beurteilen, und diese Beurteilungen sollen auch vollständig zu den Personalakten der Lehrenden gehen. Umgekehrt sollen Lehrende auch Anspruch auf Mitarbeit der Studierenden in den Veranstaltungen nach nicht zu niedrigen Standards erhalten, und die Erfüllung dieser Ansprüche soll ebenfalls dokumentiert werden.

Ressourcenzuweisung durch Studierende

Voraussetzung solcher Regelungen ist, daß die Studierenden als Druckmittel einen Teil der Mittel für Lehre und Studium selbst in die Hochschule einbringen. Bisher haben weder Staat noch Hochschulen eine Trennung der Mittel für Lehre und Studium von den übrigen Mitteln vorgenommen. Die Mittel für Lehre, Studium und Forschung - und das sind weitaus überwiegend Personalstellen oder -mittel - werden vom Staat den Hochschulen unmittelbar und ungetrennt überwiesen. Falls Studierende die Lehre bestreiken, so bleiben die Ressourcen der Hochschule für die Lehre trotzdem erhalten, ohne entsprechende Gegenleistung.

 Als Alternative könnte der Staat als Financier von Lehre und Studium einen Teil der spezifisch für Lehre und Studium auszuweisenden Mittel den Studierenden - etwa als Studiengutscheine - zuweisen, die nur für die Laufzeit von ausgehandelten Lehr- und Studienbedingungen (und auch nur dann, wenn diese von der Lehrseite erfüllt werden) der Hochschule zur Finanzierung ihrer Lehre zur Verfügung stehen. Während eines Streiks zur Änderung der Lehr- und Studienbedingungen würden diese Mittel nicht zur Verfügung stehen, die Lehrenden müßten auf reduziertes Gehalt gesetzt werden. Studiengutscheine könnten überdies den Studierenden und Lehrenden den "Wert" des Studiums deutlicher machen. Studierende könnten motiviert werden, sich die Hochschule zu suchen, die ihnen dafür den besten Gegenwert bietet, und Lehrende müßten interessiert sein, attraktive Lehre anzubieten.

Staat und Gesellschaft

Der Staat muß weiter Garant von Studienangeboten der Hochschulen in ausreichender Zahl, Differenzierung und Qualität bleiben. Trotzdem kann er nicht der alleinige Entscheider über die Einrichtung von Studiengängen, deren Größe und Ausstattung mit Lehrpersonal sein. Nach dem obigen Vorschlag für Bildungsgutscheine würde er einen Teil der Entscheidungen an die Studierenden abgeben, die über ihre Hochschulwahl und über ihr Aushandlungsrecht bei den Lehr- und Studienbedingungen über Umfang und Inhalt der Studiengänge mitentscheiden würden. Gleichwohl kann die Ausgestaltung der Studienangebote nicht nur im Dreieck von Staat, Hochschule und Studierenden ausgehandelt werden, wenn die Hochschulen wesentlich auch der Kommunikation und Innovation in der Gesellschaft dienen sollen.

 Eine Alternative wäre, Repräsentationsorgane der Gesellschaft in die Entscheidungsprozesse von Staat und Hochschule miteinzubeziehen, die insbesondere Wirtschaft und Kultur der Region vertreten. Da diese Repräsentanten weder an der Finanzierung noch am Arbeitsprozeß der Hochschulen beteiligt sind, dürfte allerdings eine definitive Mitentscheidung nicht adäquat sein. Sinnvoller wäre eine obligatorische Beratungs- und Begutachtungsfunktion dieser Organe sowohl gegenüber den Hochschulen als auch gegenüber dem Staat.

 *Der Autor ist stellvertretender Leiter des Didaktischen Zentrums


(Stand: 19.01.2024)  | 
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