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Das Tabu, das Geheimnis und das Private

Statt einer „transparenten Gesellschaft“ ist eine „Ethik der Diskretion“ vonnöten / Von Stefan Müller-Doohm und Thomas Jung*

Der folgende Vortrag, kürzlich von Radio Bremen gesendet, ist aus dem Projekt Kultur- und Kommunikationsforschung am Fachbereich 3 Sozialwissenschaften hervorgegangen. UNI-INFO druckt eine gekürzte Fassung ab.

Was einst für klatschsüchtige, für neugierige Menschen eine geheime Leidenschaft war, der Blick ins Private, ins Intime, diese Taktlosigkeit ist heute verbreitete Unterhaltungskultur in allen Medien der Massenkommunikation. Die früher verfemte Indiskretion ist salonfähig geworden. Durch das Leitmedium Fernsehen inszeniert und sanktioniert, ist die Indiskretion - gepaart mit einem Drang zur Selbstentblößung - ein bevorzugter Verhaltensstil, der jede private Zurückhaltung als von Gestern erscheinen lässt. Diese üblich gewordene Indiskretion kann man im Lichte einer allgemeinen Enttabuisierung thematisieren. Sie verweist auf eine Aushöhlung des Privaten, wenn man diese Privatheit als den Bereich des Nichtsagbaren, Nichtzugänglichen versteht.

Durch erneutes Nachdenken über den Begriff der Privatheit soll daran erinnert werden, dass die Diskretion eine soziale Qualität hat, die gegenwärtig verloren geht. Das ist insofern für das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft von Bedeutung, als die Wahrung des Geheimnisses des Anderen eine tiefgehende ethische Spur in das Zusammenleben der Menschen eingräbt. Wenn die indiskrete Mediengesellschaft alles ins Sichtbare wendet, wenn sie alles zur Sprache bringt, dann wird am Ende eine geheimnislose Gesellschaft stehen. Den Preis dafür werden die Subjekte bezahlen, die in der Ödnis einer totalen Transparenz nach der Bindekraft des Geheimnisses suchen.

Das veröffentlichte Private

Um uns mit einer einprägsamen Metapher die kulturellen Konsequenzen des neuartigen Phänomens allseitiger Kommunikation im Zeitalter der Vernetzung und des Globalismus vor Augen zu führen, hat der italienische Philosoph Gianni Vattimo das Bild von der „transparenten Gesellschaft“ geprägt - eine Gesellschaft der Postmoderne, in der das zentrale und vorrangige Vergesellschaftungsmedium nicht die Arbeit, sondern die generalisierte Kommunikation ist.

Die These von der „transparenten Gesellschaft“ verdichtet zwei markante Erscheinungen der Gegenwartsgesellschaft: Erstens die Tatsache, dass durch die Dynamik der Kommunikationsgesellschaft alles zum Kommunikationsobjekt wird, und zweitens das Phänomen, dass durch den Siegeszug ständig sich erneuernder Medien der Bezug auf einen Kanon feststehender Werte nur um den Preis möglich ist, als hoffnungsios zurückgeblieben, als unflexibel, immobil zu gelten. Insbesondere das letztere Phänomen, das Vattimo als postmoderne Befreiung von einheitlichen Weltbildern und normativen Bindungen positiv herausstellt, veranlasst ihn, von der transparenten Gesellschaft zu sprechen.

Der italienische Philosoph ist zuversichtlich, dass es mit dieser medialen Präsentation pluraler Wirklichkeitauffassungen der „transparenten Gesellschaft“ gelinge, ein zentrales Anliegen der Aufklärung durch „grenzenlose Kommunikation“ zu realisieren: die Gewährleistung einer freien, weil im öffentlichen Raum stattfindenden Meinungsbildung.

Dieser postmodern inspirierte Medienoptimismus ist trotz aller Scharfsinnigkeit im bezug auf das demokratische Potential der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien blind gegen Verkehrungseffekte, die eine Gesellschaft der generalisierten Kommunikation zeitigt: Diese Verkehrungseffekte manifestieren sich in einem strukturellen Handlungszwang, sich am Prozess des ständigen medialen Wortergreifens zu beteiligen, was zugleich dazu zwingt, sich der medienspezifischen lnszenierungsmechanismen zu bedienen, ja sich ihnen zu unterwerfen. Um Teil der generalisierten Kommunikationsgemeinschaft zu werden, muss das Subjekt sich in ein öffentliches Subjekt verwandeln, es muss sich selbst zum Kommunikationsobjekt machen.- es muss die Erwartung des massenmedial generalisierten Anderen erfüllen, indem es dem Gebot der Sich-Selbst-Offenbarung gehorcht. Medienenthaltung ist als kommunikativer Ausschluss Schweigen und dieses gleichbedeutend mit sozialer Marginalisierung. Wer diesem Schicksal entgehen will, muss sich dem Ideal der transparenten Gesellschaft und damit dem allgemeinen Wertimperativ der Selbsttransparenz unterwerfen. Dass dies geschieht, zeigt die Tendenz einer unentwegten Sich-Selbst-Offenbarung der Subjekte in der Medienöffentlichkeit.

Wie weit diese ins Subjektive gewandte Selbsttransparenz zu einem Verhaltenscredo geworden ist, kann an wenigen Phänomenen demonstriert werden, wie sie „Der Spiegel“ unter dem Stichwort „Die exhibitionistische Gesellschaft“ (Nr. 29, 1997) zusammengetragen hat. Hier werden Phänomene der Fernsehkultur konstatiert, die eine heimliche Allianz zwischen Fernsehkonsument und Fernsehproduzent erkennen lässt; eine Allianz, deren Kerngehalt ein Affektfernsehen ist, dessen Verbreitung Theodor W. Adorno schon in den sechziger Jahren prognostiziert hatte. Der Rezipient dieses Affektfernsehens ist zum willigen Selbstanbieter eines egomanen Seelentrips geworden. Was sich im Fernsehen öffentlich breit macht, ist nicht etwa nur „ein Sinken der Schamschwellen durch Vulgarisierung der Fernsehprodukte“. Auffällig ist vielmehr die neue Qualität einer sich selbst überbietenden Selbstentblößung: die ostentative Preisgabe des privaten und intimen Seelenlebens vor einem anonymen Massenpublikum, ein Exhibitionismus, der offenbar auf voyeuristische Bedürfnisse der Fernsehkonsumenten reagiert.

Diese Welle einer „Emotionalisierung des Öffentlichen“, die begleitet ist von jener Welle der Inszenierung von Indiskretionen, hat längst auch die Sphäre der Politik ergriffen. Das demonstriert im weltpolitischen Großformat die Art und Weise, wie die Medien die Affäre des amerikanischen Präsidenten in Szene gesetzt haben. Auffällig war dabei, mit welcher Rücksichtslosigkeit die lntimbeziehungen des ‘mächtigsten Mannes’ zum globalen Ereignis stilisiert wurden. Es zeigt sich also, dass die investigativen Medien Zutritt zu den letzten Refugien der Privatsphäre von Politikern finden und kaum auf Widerstand stoßen, ihnen ihre letzten Geheimnisse zu entreißen. Um in dieser Situation die Einbuße an Charisma wett zu machen, muss der Typus des neuen Politikers bereit und in der Lage sein, vor dem Massenpublikum einer globalen Öffentlichkeit sein Gefühlsleben aus freien Stücken zu offenbaren. Deshalb nutzen die Politiker nach dem Muster von Bill Clinton und Tony Blair die Redetribünen, um das eigentlich zu Verschweigende wirkungsvoll zu enthüllen und ihre innersten Empfindungen vorzuführen - eine Selbstinszenierung von Betroffenheit. So hat Clintons Beichte vor der Weltöffentlichkeit höchstens seinen Ruf als Macho, nicht aber seine Popularität als Präsident geschwächt. Insofern ist es keineswegs verwunderlich, dass man seinen Versuch zu lügen als Wahrung persönlicher Würde akzeptiert hat.

Angesichts dieses bizarren Drangs, dem Privaten und Intimen den Rang eines allgemein interessierenden, öffentlichen Ereignisses zu geben, ist es geboten, folgende These zu diskutieren: Führen diese Phänomene einer Enttabuisierung nicht zu Konsequenzen, die einerseits die soziale Bindungsfähigkeit innerhalb der Gesellschaft auflösen und die andererseits damit auch den Sozialcharakter der Subjekte fundamental verändern?

Tabu und Privatheit Folgt man der Etymologie des Begriffs, so wird deutlich, dass das Tabu prinzipiell einen zwiespältigen Stellenwert hat. Sigmund Freud schreibt dazu: „Uns geht die Bedeutung des Tabus nach zwei entgegengesetzten Richtungen auseinander. Es heißt uns einerseitsheilig, geweiht, andererseits: unheimlich, gefährlich, verboten, rein“. Eine weitere Zwiespältigkeit des Tabubegriffs liegt in dem, wovon sich der Tabubereich grundsätzlich abgrenzt. Danach ist dasjenige, was nicht zum Tabu zählt, grundsätzlich der Bereich des „Gewöhnlichen“, des „Allgemeinen“. Das Tabu bei Freud, zentriert auf den psychologischen Mechanismus der Feindseligkeit, hat die einseitige Funktion der Drosselung bzw. Vermeidung der aggressivlibidinösen Impulse, die in sozialen Gemeinschaften virulent sind. Damit liegt die gemeinschaftskonstitutive Leistung des Tabus beim generellen Mechanismus der Unterdrückung: soziale Bindung stellt sich repressiv her. Damit ist aber die zweite Bedeutungsschicht, die sich aus der Etymologie des Tabubegriffs ergibt, die des „Heiligen“, des „Ungewöhnlichen“. völlig vernachlässigt. Folgt man positiv der Semantik des Begriffs Tabu, so muss man nicht mehr unbedingt den Verbotscharakter in den Vordergrund stellen, sondern kann vom Gebot ausgehen. Das Tabu als Gebot gewährleistet eine soziale Bindung durch Bewahrung des „Nicht-allgemein-Zugänglichen“, des Nichtverfügbaren. Dieses Nichtverfügbare hat insofern eine räumliche Funktion, als es zur Ausdifferenzierung der beiden sozialen Sphären des Privaten und des Öffentlichen beiträgt. Seine soziale Funktion besteht darin, die zwischenmenschlichen Beziehungen der Individuen an die Bewahrung ihrer prinzipiellen Unbestimmbarkeit zurückzubinden.

Unter diesem sozialen Aspekt ist Enttabuisierung die Zerstörung eines Bereichs des Nichtkommunizierbaren, des Nichtsichtbaren. Dies ist ein Bereich, der als Sphäre des Geheimnisses beim Subjekt als Unbestimmbarem anzusiedeln ist. Diese sozialintegrative Funktion des Tabus wird deutlich, wenn man es in Beziehung setzt zum Begriff des Privaten.

Die Geburt des Privaten ist neuzeitlichen Datums, folglich an den Übergang von einer eher gemeinschaftlichen Existenzweise des Mittelalters zu einer individualistischen Existenzweise der Neuzeit gebunden. Erst in der Gesellschaft der Moderne hat sich im Prozess ihrer Konstitution das normativ gehaltvolle Konzept des autonomen Subjekts herausgebildet. Diese Autonomie kommt gerade auch im Recht auf Privatheit zum Ausdruck. Und dieses Recht besagt nicht zuletzt, dass es „Dinge gibt, die ein Recht auf Verborgenheit haben“ (Hannah Arendt).

Geheimnis und Diskretion

Wie ist das Private im Lichte des Geheimnisses zu explizieren? Hierzu geben die Schriften Georg Simmels Aufschluss. Was der Kultursoziologe Simmel aufdeckt, ist einerseits die soziale Funktion des Geheimnisses und andererseits dessen Fähigkeit, die soziale Welt zu strukturieren.

Zum einen spaltet das Geheimnis die soziale Welt in eine offenkundige und eine verborgene Welt. Zum anderen wird das soziale Verhältnis zwischen den Menschen davon bestimmt, „ob und wie viel Geheimnis in ihm ist“. Die sozialen Beziehungen der Menschen untereinander strukturieren und entwickeln sich danach, was in ihnen preisgegeben oder nicht preisgegeben wird.

Die soziale Funktion des Geheimnisses, also seine Bedeutung für die menschlichen Begegungen liegt darin, dass das Geheimnis den Beziehungen einen - vom Inhalt des Geheimnisses selbst unabhängigen - Attraktivitätsreiz gibt. Es ist gewissermaßen die “generelle Rätselhaftigkeit“, die, gegeben durch die Fremdheit der Subjekte, das soziale Band der Beziehungen füreinander knüpft. Gerade das Spiel von Entbergung und Verbergung macht die eigentliche Attraktivität aus, damit die soziale Beziehungsaufnahme nicht im leeren Rollenmechanismus erstarrt. Man kann die Simmelsche Geheimnisthese allgemeiner formulieren: Das Leben in der Gesellschaft, dessen zentraler Inhalt die soziale Beziehung ist, basiert darauf, dass die Menschen als Subjekte füreinander Unbekannte, das heißt geheimnisvolle Fremde sind. Nur deshalb sind die sozialen Beziehungen attraktiv, weil die Menschen füreinander ständige Geheimnisträger sind. Das Paradox besteht darin, dass das Geheimnis zwar eine trennende bzw. spaltende Funktion besitzt, zugleich aber eine konstitutive Qualität für die Sozialität der menschlichen Beziehungen hat. Diese Bestimmung des Geheimnisses, die von einer grundlegenden Fremdheit der Menschen füreinander ausgeht, stimmt überein mit derjenigen Funktion des Geheimnisses, wie Simmel sie in seinem Diskretionsaufsatz entfaltet hat.

Die Diskretion als „ein Respekt vor dem Geheimnis des Anderen, vor seinem direkten Willen, uns dies oder jenes zu verbergen“, basiert auf dem Faktum, dass „alle Beziehungen zwischen den Menschen auf dem Wissen beruhen“, das „der eine von dem anderen hat“. Simmel pointiert: „Dieses Bekanntsein im gesellschaftlichen Sinn ist der Hauptsitz der Diskretion“. Gleichwohl steht diese Bestimmung der Diskretion unter dem Primat dessen, was Simmel selber die oberflächlichste Beziehung der Menschen zueinander genannt hat- diejenige, die „durch bloße Namensnennung vermittelt“ ist und die allenfalls ein „Notiznehmen“ von der Person ausmacht. Erst wo die Diskretion in die Tiefe geht, auf die „Sphäre des inneren Daseins des Menschen“, auf das „seelische Privateigentum“ ausgerichtet ist, gewinnt sie jene Qualität, die an das personelle Geheimnis des Subjekts rührt. „Denn nicht nur, was der eine von dem anderen weiß, sondern dessen Verwebung mit dem, was er von ihm nicht weiß, gibt der Beziehung ihren Ton, ihren Umfang, ihr Tiefenmaߓ. Erst im Lichte des personalen Geheimnisses wird aus der formal bestimmten Diskretion die inhaltliche, die mit einem Maßgefühl für das Geheimnis des Anderen zu umschreiben ist. Bei Simmel geht dieses Maßgefühl auf die ethische Maxime zurück, wonach „um jeden Mensch herum eine ideelle Sphäre“ existiert, „in die einzudringen den Persönlichkeitswert dieses Individuums zerstört“. Nur diese Ethik der Diskretion sorgt für eine Grenzziehung zwischen den Menschen, die den Prozeß einer völligen Vergesellschaftung des Individuums in Grenzen hält.

Der eigentliche Stellenwert des Geheimnisses liegt nicht beim schutzwürdigen Seelenleben, sondern er besteht in einer Grenzziehung zwischen „der Mitteilbarkeit oder Nichtmitteilbarkeit der Persönlichkeit“. Somit basiert das soziale Leben nicht zuletzt darauf, dass die Menschen als Subjekte aufgrund ihrer substantiellen Verschiedenheit - die nicht mit dem Phänomen der sozialen Ungleichheit zu verwechseln ist - füreinander differente und geheimnisvolle Unbestimmte sind. Von Simmel lernen wir, dass es bei der Diskretion nicht primär um den „Persönlichkeitswert des Individuums“ oder sein „seelisches Privateigentum“ geht. Dies würde die Diskretion nur in die Nähe des taktvollen Verhaltens rücken. Vielmehr steht die Nichtverfügbarkeit jenes Geheimnisses selbst im Vordergrund, das aus der prinzipiellen Unbestimmbarkeit des Subjekts herrührt und zugleich den Attraktivitätsreiz eines vergeblichen Bestimmenwollens zwischen den Menschen ausmacht. Im Lichte einer Diskretionsethik formuliert heißt dies: Die Diskretion ist der habituelle Ausdruck einer Ethik, die die Unbestimmtheit des Anderen im gesellschaftlichen Verkehr als ein inneres Geheimnis wahrt. Solchermaßen wirkt die Diskretion im gesellschaftlichen Verkehr wie ein positives Tabu, das das Mitteilen vom Nichtmitteilen nicht nur trennt, sondern die Sphäre des Nichtmitteilsamen wie eine heilige Privatheit schützt. Indiskretion ist deshalb Tabuüberschreitung im fundamental sozialen Sinne, weil sie das Fundament menschlicher Sozialität, die Unbestimmbarkeit des je gegebenen Anderen zerstört.

Das kommende Jahrtausend könnte eine Zeit des sozialen Paradoxes werden: Bei wachsender kommunikativer Vernetzung der Individuen werden diese in ihrer Handy-Existenz immer einsamer, weil geheimnisloser. Diese Form sozialer Isolation sucht ihre Kompensation in einer Permanenz der Kommunikation, in der substantiell nichts kommuniziert wird, weil alles kommuniziert ist.

* Prof. Dr. Stefan Müller-Doohm und Dr. Thomas Jung gehören dem Institut für Soziologie und Sozialforschung am Fachbereich 3 Sozialwissenschaften an.


(Stand: 19.01.2024)  | 
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