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Philosophische Ernüchterungen

Richard Rorty war Gastprofessor bei den Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit


Richard Rorty (r.) bei der Podiumsdiskussion mit Michael Sukale

Seit dem Sommersemester 1997 werden die Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit und die Verleihung des Karl Jaspers-Förderpreises von der Stiftung Niedersachsen finanziert.
Die Grundidee der Vorlesungsreihe ist, bedeutende Richtungen der Gegenwartsphilosophie durch einen prominenten Gast vorzustellen und bei dieser Gelegenheit das Rampenlicht auf herausragende habilitierte NachwuchswissenschaftlerInnen zu lenken. 1997 war einer der Gründerväter der analytischen Philosophie, Willard Quine aus Harvard, Gast der Vorlesungen. Quine erhielt bei dieser Gelegenheit die Ehrendoktorwürde der Universität. 1998 war der Sozialphilosoph Jürgen Habermas Inhaber der Gastprofessur.

In diesem Jahr hatten die Jaspers-Vorlesungen am 5. und 6. Juni den 1931 in New York geborenen Richard Rorty aus Stanford zu Gast, während der Förderpreis an den Marburger Politikwissenschaftler Thomas Noetzel ging.

Rortys öffentliche Vorlesung, auch von erfreulich vielen Studierende besucht, hatte den programmatischen Titel “Analytische Philosophie und verändernde Philosophie”. Darin zeichnete Rorty seinen philosophischen Werdegang nach und nahm gleichzeitig am Beispiel des Faches Philosophie eine historisch-soziologische Analyse des amerikanischen Hochschulsystems vor, die, bei richtigem Hinhören, auch einige nützliche Hinweise für die Zukunft der Philosophie als akademische Disziplin in Deutschland enthalten könnte. Vertreter der Fachschaft Philosophie wiesen denn auch bei diesem Anlass auf einem Flugblatt mit der provozierenden Frage “Brauchen wir Philosophie? auf die prekäre Lage einer zur Kooperation mit der Universität Bremen verurteilten Oldenburger Philosophie hin. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Rorty in dieser Situation ein groß angelegtes Szenario der Gefahren einer sich selbst überfordernden Philosophie beschrieb, die am Beispiel der USA zwischen zwei fragwürdigen Autoritäten zerrieben zu werden drohe: der methodisch-technisch orientierten und begründungsfixierten sprachanalytischen Philosophie und der literarisch an so genannten “Klassikern” orientierten Philosophiegeschichte.

Rorty, in beidem von Beginn an bestens bewandert, wendete denn auch 1958 in seiner Dissertation das sprachanalytische Instrumentarium auf den “toten Klassiker” Aristoteles an. “Die Arbeit an meiner Dissertation hinterließ in mir das Gefühl - um es mit einer vielleicht etwas unbeholfenen Metapher auszudrücken -zwischen der zurückweichenden Ebbe und der aufsteigenden Flut gestrandet zu sein.” Kann es sein, dass Rorty in seinem Bemühen um eine Philosophie der Kontingenz, die mit allen Begründungsversuchen und Wahrheitsansprüchen bricht, dieses Gefühl des Überschwemmt- oder Ausgetrocknetwerdens nie losgelassen hat?

Den BesucherInnen bot sich das Bild eines sehr zurückhaltenden Gesprächspartners, der Standpunkte kaum zuließ und die meisten rückfragenden Argumentationsversuche der mit ihm Diskutierenden ins Leere laufen ließ. Äußerlich scheinbar ungerührt werden in Rortys gewaltigem, mit der Philosophiegeschichte bestens vertrautem Denklaboratorium die in diesen Rückfragen enthaltenen Elemente mit gut eingeübter analytischer Strenge zerlegt und immer wieder neu zusammengesetzt. Die durch eine Seminarveranstaltung über Rortys Hauptwerk “Kontingenz, Ironie und Solidarität” (1989) vorbereiteten Studierenden rieben sich die Augen: Soll das der Erfinder der “liberalen Ironikerin” sein, die den bisher die Philosophie dominierenden “prinzipiengeleiteten Metaphysiker” ablöst, jener Autor, der das Auflösen von Problemen wichtiger findet als ihre Lösung, der an der seit Plato getroffenen Unterscheidung zwischen Wissen und Meinung nicht länger Interesse hat und der demgegenüber in der Entwicklung neuer Vokabularien zur Veränderung von grundlegenden Selbstbeschreibungen nur noch einen ästhetischen Wert zukünftigen Philosophierens sieht? “In der Regel hinterfrage ich die Ausdrücke, in denen das Problem aufgeworfen wird, und versuche eine neue Reihe von Ausdrücken vorzuschlagen, mit denen sich das vermeintliche Problem nicht mehr formulieren lässt.”

Kostproben dieser argumentationskritischen Zerlegungstechnik lieferte Rorty sowohl bei der Diskussion mit den Studierenden wie bei der Podiumsdiskussion, die weniger den Charakter eines Disputs hatte, sondern vielmehr ein Gespräch mit geladenen Freunden und einer Freundin war. Fragen wie: Lässt sich kultureller Wandel überhaupt, wie von Rorty behauptet, in der Problemlösungsterminologie der biologischen Evolution beschreiben? Welche Rolle spielen in die Zukunft weisende menschliche Motive im Vergleich zu retrospektiven Erzählungen bei der Veränderung eines Vokabulars? Wie können Bedeutungen in Rortys zeichentheoretische Sprachauffassung integriert werden? Anhand welcher Kriterien ist die “Dialektik der Aufklärung” (laut Rorty “deep philosophical stuff”) für ihn ein “schlechtes Buch”? finden vergleichbare Antworten, nämlich dass uns die Reflexionen über solche und ähnliche Fragen nicht dabei helfen können, etwas besser zu tun.


Karl Jaspers Förderpreis für Thomas Noetzel

Angesichts weiterhin bestehender Ungerechtigkeiten und weltweiter Gewalttaten zwischen Menschen und Mensch und Natur ist dieser beklemmende Befund Rortys nur schwer von der Hand zu weisen, mit dem er sich gegenwärtig verstärkt für einen Brückenschlag zwischen Wissenschaft, Philosophie und Politik stark macht.

Es blieb dem diesjährigen Förderpreisträger Thomas Noetzel in seiner Einführung zu Rortys Vortrag vorbehalten, diesen Brückenschlag plausibel zu machen. Denn in einer von Rorty beschworenen “Priorität der Demokratie vor der Philosophie” (1991) geht es weder um wissenschaftliche Begründung noch um philosophische Rationalität, sondern um die an konkrete politische Probleme gebundenen praktischen Unterscheidungen, die auf positiven wie negativen politischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts beruhen. “Rorty bietet eine politische Philosophie der radikal situierten Individualität, die sich entwickeln und verändern können soll und gerade dadurch bürgergesellschaftliche Solidarität möglich macht.“ (Noetzel)

Friedrich Nietzsche, auf den sich Rorty immer wieder beruft, stellte bereits vor über hundert Jahren die Frage, ob es dem Menschen tatsächlich möglich sei, ganz ohne Teleologie leben zu können. Richard Rorty provoziert heute die ähnliche Frage, ob wir ohne vorbildliche Autoritäten oder wenigstens schmerzlindernde Tröstungen auskommen können. So wichtig es ist, überholte Standpunkte im Sinne Rortys kritisch zu überwinden, gilt es doch, die studentische Flugblattfrage “Brauchen wir Philosophie?” aufnehmend, Standpunkte durch eigene akademische Anstrengung allererst zu gewinnen. Da es mittlerweile zum Ausbildungskanon einer jeden deutschen Universität gehört, sowohl in analytischer Philosophie wie auch in Ideengeschichte ausgebildet zu werden, sind die von Rorty für das amerikanische Hochschulsystem beschworenen verabsolutierenden Feindbilder der einen oder anderen Seite bei uns gegenwärtig kaum zu befürchten, da im Philosophiestudium von Beginn an das gleichzeitige Einüben in verschiedene Standpunkte gefordert wird. Gefahr droht der Philosophie dagegen von einer ganz anderen Seite, auf die Rorty ebenfalls aufmerksam gemacht hat, dass nämlich eine überzogene Akademisierung des Faches philosophische Sachgebiete an die Stelle der philosophischen Schulen setzen könnte, was die Einheit der philosophischen Reflexion des Ganzen gegenüber den dann allein regierenden normalen Diskursen der Wissenschaften außer Kraft setzen könnte. Rortys Philosophie der Kontingenz und Konvergenz repräsentiert damit ein gut funktionierendes Frühwarnsystem zur Vermeidung denkerischer Sackgassen. Vernünftige Auswege müssen wir dagegen wohl selber finden. Denn: “Nützliche Philosophen sind diejenigen, die sich neue Ausdrücke ausdenken und dadurch alte Vokabulare überflüssig machen” ist einfach zu wenig. Wer will schon in Zeiten, in denen sich soviel um den Nutzen dreht, allein nützlich sein?

Reinhard Schulz

Kosovo: Wie baut man eine zivile Gesellschaft?

Michael Daxner über “Erziehung im Kosovo” /
“Versuch einer nichtkolonialen Mandatsverwaltung bislang nicht gescheitert”

Seit vier Monaten ist Prof. Dr. Michael Daxner, von 1986 bis 1998 Präsident der Universität Oldenburg, im Auftrag der UNO im Kosovo tätig. Er ist zuständig für den Neuaufbau des Hochschul- und Erziehungswesens. Über erste Erfahrungen sprach Daxner am 17. Juni im Oldenburger Kulturzentrum PFL. UNI-INFO dokumentiert den Vortrag in gekürzter Fassung. Der vollständige Text erscheint in Kürze in der Reihe “Oldenburger Universitätsreden”.


Reale und symbolische Zerstörung zugleich: Eine serbische Kirche, von Albanern in Schutt und Asche gelegt

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde!

Wer heute über den Kosovo berichtet, sieht sich einerseits einer Fülle schnell hingeschriebener Literatur und Medienberichten gegenüber, andererseits einem bedrohlich abnehmenden Interesse der internationalen Gemeinschaft an einem Land und seinen Menschen. Wenn Bernard Kouchner, der von Kofi Annan eingesetzte Chef der UNMIK-Mission, immer wieder darauf aufmerksam macht, dass wir zu wenig Geld haben, dass mehr und nachhaltige Hilfe zum Aufbau einer ganzen Gesellschaft im Kosovo gebraucht werden, dann mag man bedenken, dass die Prognosen für eine rasche und nachhaltige Erholung der Gesellschaft im Kosovo in der seltsamen Euphorie des letzten Sommers entweder leichtfertig oder bösartig gewesen sein müssen. Es wird Jahre dauern bis diese Gesellschaft wieder intakt ist, und trotzdem haben wir nur ganz wenig Zeit. Denn die einmalige Gelegenheit, über die ich sprechen werde, wird bald in eine internationale Routine übergehen, während die Aufmerksamkeit sich unter dem Terror der Aktualität anderen zuwenden wird.

Zur Erläuterung: UNMIK (“United Nations Interim Mission in Kosovo”) koordiniert mit Regierungsgewalt die vier Hauptfelder des Aufbaus: Flüchtlingsfragen, Aufbau von Demokratie und Recht, Ökonomie und schließlich die Zivilverwaltung. Dort arbeite ich mit 15 anderen Heads of Departments zusammen, an deren Spitze Tom Koenigs steht.

Kosovo hat etwa die Größe des Regierungsbezirks Weser-Ems, 10.000 Quadratkilometer. Zur Zeit leben knapp zwei Millionen Menschen auf dem Territorium. Ich arbeite in Priština, einer Stadt, die seit dem Krieg ihre Einwohnerzahl fast verdreifacht hat und heute mit geschätzten 500.000 Einwohnern einen Brennpunkt darstellt, der eine Vielzahl von explosiven Sekundärkonflikten provoziert. Auf dem Weg zu meiner Wohnung auf einem der Hügel um die Stadtmitte herum muss ich jeden Tag an einer wilden Deponie vorbei, die brennt, stinkt und Vögel und Ratten anzieht. Immerhin hat uns eine kleine Hasenpestepidemie geholfen, ein gewisses Hygienebewusstsein in praktische Handlungen umzusetzen.

Der Serbe ist der Feind
Wie baut man eine Zivilgesellschaft auf? In einem ganz einfachen Verständnis geht es darum, durch das Einführen demokratischer Strukturen, einer geordneten Rechtsprechung, der Herrschaft von Gesetz über Willkür, garantierter Freiheitsrechte und einer marktwirtschaftlichen Alternative zum sozialistischen Wirtschaftsdesaster die Möglichkeiten zu schaffen, dass die Bewohner des Kosovo wieder zu sich selbst und damit möglicherweise zueinander finden. Die albanische Mehrheit ist so kollektiv traumatisiert wie die geschrumpfte serbische Minderheit und die anderen kleinen Volksgruppen. Eine unendlich komplizierte, aber gut dokumentierte Geschichte wird allseits nicht zur Kenntnis genommen, dafür wird mit großem wissenschaftlichen und rhetorischen Aufwand an Mythen und Legenden gestrickt, die das mangelnde bürgerlich, zivile Selbstbewusstsein kompensieren.

Wir sollen also eine Gesellschaft aufbauen, in der Macht nicht unmittelbar und nach dem Recht des Stärkeren ausgeübt wird, sondern zivil, das heißt durch Regeln und Instanzen vermittelt. Das klingt nicht nur sehr schön, es erscheint zunächst aussichtslos angesichts der ethnischen Spaltung. Der Serbe ist der Feind, höre ich von einem fortgeschrittenen Studierenden in einem Gastseminar zu Gedichten von Ingeborg Bachmann. Gleiches hört man von serbischer Seite. Je mehr wir uns bemühen, Heimkehrprogramme auch für Serben zu gestalten, neben den Zehntausenden albanischer Kosovaren, die monatlich zurückkehren müssen, desto gewaltbereiter ist eine sehr große, meist jugendliche, unreife, von alten Ideologen inspirierte albanische Minderheit, auf alles zu schießen, was serbisch aussieht. Die Aufmerksamkeit der Weltpolitik ist eine sehr zweifelhafte Segnung, aber die Voraussetzung, dass es sich nicht um eine völlig unmögliche Mission handelt.

Das Erziehungswesen und die Universität spielen in dieser politischen Geschichte eine zentrale Rolle. Vor mehr als elf Jahren begann ein Prozess der überwiegend von den Serben erzwungenen Ausgrenzung der albanischen Mehrheit aus dem öffentlichen Leben, den Bildungseinrichtungen und der Wissenschaft. Das war kein so eindimensionaler Prozess, wie die Albaner ihn heute darstellen, führte aber doch zu einer beachtlichen Einrichtung einer Parallelstruktur, mit Wahlen, Regierung, ziviler Verwaltung und einem überwiegend aus privaten Zuwendungen aufrechterhaltenen Bildungswesen, einschließlich einem Universitätsbetrieb von beachtlicher Ausdehnung.

Das große Problem der Albaner ist es, ihre ethnische Authentizität und ihre Identität als Wertegemeinschaft gegen die politische Realität durchzusetzen, und das seit Jahrhunderten - meines Erachtens unter Zuhilfenahme der unsinnigsten historischen und mythenbildenden Instrumente und damit jenseits der einfachsten Realitätsprinzipien gesellschaftlicher Konstruktion. Diese Identitätspolitik verhindert das Entstehen einer intellektuellen, kritischen politischen Klasse, die das richtige Gewicht zwischen nationaler Originalität und europäischer Integration vorbereiten könnte, die aber auch am tatsächlichen Geschehen anstatt an der Geschichtskonstruktion arbeiten könnte. Ich sehe meine Aufgabe im gesamten Erziehungswesen darin, solche kritischen Persönlichkeiten für die Zukunft zu ermöglichen, anstatt der übersteigerten Identitätsphilosophie Vorschub zu leisten.

Die Universität ist eine integrierte Gesamthochschule im deutschen Sinn. Der Erziehungsbereich wird von einem Department of Education and Science geleitet, dem ich als internationaler Beamter vorstehe und dessen Verantwortlichkeit für das Schulsystem ich mir mit dem albanischen Co-Direktor teile. Ich leite die Universität als International Administrator und habe als Partner den Rektor. Die Universität hat etwa 16.000 Studierende, ca. 1.000 Lehrende und 1.000 sonstige Bedienstete, auch hier gibt es ähnliche Probleme wie im Schulbetrieb: ein völlig unflexibles frontales Curriculum, ein überalteter und praxisferner Lehrkörper, eine aufgeblähte und zersplitterte Verwaltung.

Wenn wieder geschossen wird
Die Ausstattung der Schulen ist unterschiedlich schlecht. Viele Bereiche liegen nicht nur materiell im Argen. Die Diskriminierung von Mädchen und Frauen im Bildungswesen erfolgt überhaupt nicht subtil. Minderheiten wie die Roma haben noch größere Schwierigkeiten bei der Integration in ein einheitliches Bildungssystem als andere. Der Streit um das einheitliche Curriculum, um die Texte in Schulbüchern, um minimale Sofortreformen im Curriculum ist ebenso politisiert wie die Frage, welche Form Zeugnisformulare haben dürfen, um mit den internationalen Richtlinien übereinzustimmen. Viele Albaner sind sehr schwer davon zu überzeugen, dass es nicht angeht, den albanischen Doppeladler auf ein Zeugnisformular zu drucken oder unter Nationalität “Kosovar” anzugeben.

Alles was wir bisher angefangen haben, steht unter dem Druck der Doppelbödigkeit. Auf der einen Seite ganz normale, komplizierte oder auch routinierte Verwaltungsakte: eine Wiederbesetzungssperre an der Universität, eine Regelung für Unterrichtsausfall an den Schulen, die Schließung einer Außenstelle der Universität. Gerade diese scheinbare Normalität macht die zweite Ebene so prekär: Vertreter der serbischen Minderheit an einigen Orten verweigern jede Kooperation, wenn es um die Übersetzung eines einheitlichen Curriculums oder Schulbücher geht; andere serbische Lehrer helfen uns, die alten Schulbücher von nationalistischen Textstellen zu befreien. Disziplinarfälle müssen spontan entschieden werden, weil es noch keine vernünftige Verwaltungsgerichtsbarkeit gibt; auch die vielen politischen motivierten kriminellen Handlungen, die an einen herangetragen werden, werden in einem unscharf abgegrenzten Raum zwischen Dienststelle, Polizei und persönlicher Auseinandersetzung geklärt - oder eben nicht.

Es ist ungemein schwierig, sich vorzustellen, dass die bestehenden Strukturen nicht reformiert werden können, sondern dass man sie teilweise neu erfinden muss. Von der Autoregistrierung über das Katasteramt, über die Regelung sehr schwieriger Eigentumsfragen bis hin zur Verteilung von bosnischen Schulbüchern will alles organisiert und umgesetzt sein.

Nach der Sicherheitsratsresolution soll UNMIK keine alten Gesetze anwenden, die in irgendeiner Weise den Prinzipien, deretwegen die Intervention erfolgt ist, widersprechen. Ganz pragmatisch hat UNMIK entschieden, dass solche Regeln, die diesen Prinzipien nicht widersprechen, weiter gelten, also die Gesetze und Verordnungen von vor 1989. Was aber bedeutet das in der Spannung von unbrauchbar gewordenem jugoslawischen Recht und dem Zwang, alles neu aufzubauen? In der Universität bedeutete es zum Beispiel, erstmals so etwas wie Mitbestimmung und Beteiligung von Frauen auf demokratische Weise einzuführen, die alten, wenig demokratischen Mitbeteiligungsrechte zu verändern, aber auf der anderen Seite die Kollektivverträge bei den Beschäftigten erstmals durch ein transparentes individuelles Gehaltsschema abzulösen. Wir müssen diese Fragen alle zeitgleich lösen und wissen doch, dass sie unter Rahmenbedingungen gelöst werden, die vordergründig damit nichts zu tun haben. Wenn wieder geschossen wird, wenn mühsam ausgehandelte Kompromisse durch Unbedachtheit oder bewusste Destabilisierung zerstört werden, dann tritt die Wirklichkeit an die Oberfläche, verdrängt die erwünschte Realität. Aber diese Wirklichkeit ist natürlich ständig präsent.


Albanische Massengräber: Ganze Familienklans wurden ausgerottet

Abschied von den großen Zielen
Auf der Fahrt zur Stadt Peje fahre ich zunächst durch den großen, überwiegend serbisch besiedelten Ort Amselfeld, in dem es passieren kann, dass die Serben wegen eines Attentats protestieren und die Straße sperren, oder dass ich vor einer von hohem Stacheldraht umgebenen Schule stehen bleibe und die Kinder beobachte, die von Soldaten beschützt Fußball spielen. Ich fahre weiter und tauche in eine wunderschöne Landschaft ein, deren Idylle bei genauem Hinschauen mehr als trügerisch ist. Hier gibt es viele Dörfer, in denen noch kein Haus wieder aufgebaut ist, und je mehr wir uns den ehemaligen Kampfzonen nähern, desto häufiger sehen wir die gleichförmigen Blumengebinde auf den Massengräbern. Es sind oft ganze Familienklans, die ausgerottet wurden. Die Straße führt an einer großen, nicht alten, serbischen Kirche vorbei, die mit einer gewaltigen Sprengladung von den Albanern in Schutt und Asche gelegt wurde, der uralte Baum davor gleich mit. Die symbolische Zerstörung begleitet die reale, und wenn man in Peje ankommt, freut man sich schon, dass die Müllberge an der Straße ein wenig abgetragen worden sind seit dem letzten Besuch.

Ein Schulbesuch in der technischen Berufsschule zeigt uns, wie man mit etwas mehr als zwei Millionen Mark eine wirklich gut ausgestattete technische Lehranstalt mit deutschen Maschinen, Ausbildung der Trainer und sogar einem Ersatzteillager errichten kann. Der Alltag holt einen ein, wenn man die nächste Schule besichtigt, in der nichts von dem zu finden ist, was wir gerade gesehen haben.

Unsere zivile Mission hat längst Abschied genommen von dem Wunsch einer unmittelbaren Umsetzung der großen und erhabenen Ziele, die den Rahmen der Intervention in den Kosovo dargestellt haben. Wir verlieren die Ziele sicher nicht ganz aus den Augen, aber der subtile Übergang vom Überleben zu einem zivilisierten Leben will erst einmal in Angriff genommen werden. Was immer man über die Details der Zusammenarbeit zwischen uns und den Kosovaren sagen mag: Bislang ist der Versuch einer nichtkolonialen Mandatsverwaltung nicht gescheitert. Die unendlich mühsame Auseinandersetzung innerhalb der geteilten Verwaltung lässt die Kosten und den Preis für Demokratie erahnen. Was hier im Kosovo an Hass, Unverständnis und auch schlicht krimineller und gewalttätiger Dummheit sich versammelt hat, wird nicht einfach durch eine effektive und gar noch ökonomische Verwaltung beseitigt. Aber denken wir daran, dass Deutschland auch 50 Jahre gebraucht hat, bis es die letzten großen Schlacken seiner gewalttätigen Vergangenheit in Angriff genommen hat.


(Stand: 19.01.2024)  | 
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