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Im Oktober fuhr eine 20-köpfige Delegation für eine Woche nach Bosnien und die Hauptstadt Sarajevo, um Land und Leute kennen zu lernen und mit den Menschen zu sprechen. Unter der Leitung des Doktoranden Dubravko Dolic nahmen die Studierenden aus den Bereichen Geschichte, Sozialwissenschaften, Interkulturelle Pädagogik und Slavistik an der Exkursion mit dem Theöma "Fünf Jahre Frieden?" teil.

"Ich glaube, das muss ich alles erst noch verarbeiten!" Das war der häufigste Kommentar, den die Teilnehmer einer Studierendenexkursion nach Bosnien und Sarajevo am Ende hören ließen. "Das alles", damit meinten sie die Eindrücke nach einer Woche in einer Stadt, in der vor fünf Jahren noch Krieg herrschte. Bereits kurz hinter dem Flughafen konnten sie feststellen, dass Sarajevo anders ist als andere Hauptstädte Europas. Hier verlief die Frontlinie zwischen serbischen Belagerern und der bosnischen Armee und hinterließ wenig mehr als Betonskelette, wo einst Wohnhausreihen standen. Teilweise sind bereits Bauarbeiten an diesen Ruinen begonnen worden, denn die vielen Flüchtlinge benötigen dringend Wohnraum. Dennoch wird das Bild in einigen Stadtteilen hauptsächlich von zerstörten Häusern geprägt.

Grenzgebiet zwischen Ost und West

Genauso zerstört scheinen die Perspektiven der Menschen, die hier wohnen. In den Gesprächen mit Studenten vor Ort klingt es immer wieder heraus: "Zwar ist Sarajevo unsere Heimatstadt, in der wir aufgewachsen sind, aber eine Zukunftsperspektive gibt es hier nicht." So erklärt beispielsweise Tomislawa, eine Wirtschaftsstudentin: "Ich würde gerne im Parlament arbeiten, aber trotz meiner guten Zeugnisse habe ich keine Chance, da die Stellen alle nach nationalem Schlüssel besetzt werden. Man muss schon Mitglied der Partei sein, um da einen Fuß hineinzubekommen." Das Denken in nationalen Kategorien ist eines der hauptsächlichen Hemmschuhe für eine schnelle Entwicklung dieser ansonsten so schönen Stadt. So erklärt auch der Geschichtsprofessor Dubravko Lovrenovic den deutschen Studenten: "Dieser Teil Europas ist ein Grenzgebiet zwischen Ost und West. Hier gibt es drei Geschichten." Was das heißt, hat die Gruppe aus Deutschland deutlich erfahren. Ein muslimischer Bosnier erzählt ihnen bei einem Besuch im Anti-Kriegs-Museum, dass in Sarajevo vor dem Krieg 300.000 muslimische Bosnier lebten. Einen Tag später hören die Deutschen von einem Vertreter der serbisch-orthodoxen Kirche, dass in Sarajevo vor dem Krieg 300.000 Serben lebten. Einig waren sich beide Vertreter nur darin, dass vor dem Krieg insgesamt 500.000 Menschen in dieser Stadt lebten.

Nicht nur die unterschiedlichen Gesichtsbilder verwirren, auch die Stadt selber überrascht mit ihren vielen verschiedenen Anblicken. In der Innenstadt, wo eine Fußgängerzone nach österreichisch-ungarischem Stil mit einem verwinkelten alten Stadtteil aus der osmanischen Zeit architektonisch zusammenfließt, ist vom Krieg nichts mehr zu bemerken. Nicht einmal Armut findet sich hier auf dem ersten Blick. Nur die "Asphaltrosen" erinnern daran, dass hier vor einigen Jahren unschuldige Menschen, die für Wasser anstanden, von Granaten niedergemetzelt wurden. Die "Asphaltrosen" sind mit rotem Plastik ausgegossene Einschlagstellen der Granaten.

Die eigenen Häuser in Schutt und Asche gelegt

Schon wenige Meter außerhalb der Innenstadt sieht es ganz anders aus. Zunächst drängen sich die offensichtlichen Schäden auf: Wie ein Mahnmal reckt sich das ausgebrannte Parlamentsgebäude mit seinen schwarzen, ausgebrannten Fenstern in die Luft. Geht man einige Schritte weiter, kommt man an baufälligen Ruinen vorbei, in denen zwischen zerstörten Wohnungen hier und da wieder Fenster eingesetzt wurden. Offensichtlich wohnen dort bereits wieder Menschen. Die Wohnungsnot ist groß. So groß, dass einige Familien sich in das fensterlose Erdgeschoss einer Kriegsruine eingenistet haben. Zwar gibt es dort keine geschlossenen Räume, aber wenigstens ein Dach über dem Kopf. Besonders deprimierend ist ein Spaziergang durch den Stadtteil Grbavica. Dort haben bis 1996 Serben gelebt. Nach dem Ende der Belagerung Sarajevos wurde der Stadtteil an die kroatisch-muslimische Verwaltung übergeben. Die Serben flohen daraufhin zu Tausenden und legten zusätzlich ihre eigenen Häuser in Schutt und Asche. Heute hausen die Ärmsten der Armen in diesen Häuserresten: Vertriebene aus Zentralbosnien und dem Kosovo oder Zigeuner. Sie leben in erbärmlichen Zuständen in zerstörten Häusern, während die Kinder draußen in vermintem Gelände spielen. Zusätzlich zur Armut erschreckt der Eindruck, dass diese Häuser vor kurzer Zeit alle einmal gut ausgesehen haben müssen. Hier und dort eröffnet sich der Blick auf Reste eines gekachelten Bades oder verraten übriggebliebene Ziegel den verschwundenen Wohlstand.

Auch in den Gesprächen mit den Menschen vor Ort wird immer wieder deutlich, was für Beobachter aus Deutschland schwer zu begreifen ist: "Vor dem letzten Krieg war Sarajevo eine ganz normale Stadt wie viele in Europa." Nach den schlimmen Erfahrungen der Jahre 1992-1995 fragen sich viele hier, ob Bosnien überhaupt noch zu Europa gehören möchte. Für einige ist die Antwort sehr klar: "Die UNO? Auflösen!", kommentiert Edin, ein ehemaliger Soldat der bosnischen Armee, die Sarajevo vor den Serben verteidigte. Seine Erfahrungen mit der Internationalen Gemeinschaft sind nicht die Besten. "Mit dem Waffenembargo gegen die Länder des ehemaligen Jugoslawiens hat die UNO uns bosnischen Muslime zu Tode verurteilt", fährt er fort. Andere sind in ihrem Urteil zurückhaltender. Und einig sind sich die meisten darin, dass die SFOR- Truppen der Internationalen Gemeinschaft weiterhin gebraucht werden. "Wenn die gehen, fängt hier alles von vorne an", hörten die deutschen Studenten nicht selten. Grund genug, den deutschen Truppen bei der SFOR einen Besuch abzustatten.

Begegnung mit Bundeswehrsoldaten

Die Führung durch das Feldlager der deutschen SFOR und die Gespräche mit den jungen Soldaten waren für viele Studenten der Gruppe eines der eindruckvollsten Erlebnisse. "Für einen Moment habe ich gedacht wie gut es sein muss, Teil einer so beeindruckenden Organisation zu sein", kommentiert die Psychologiestudentin Monika. Mit überraschender Offenheit zeigen die Bundeswehrsoldaten, was sie in Rajlovac aufgebaut haben, um die internationalen Gemeinschaft bei der Erfüllung ihres Auftrages zu unterstützen. Aber nicht nur die guten Leistungen werden hervorgehoben, auch die Probleme werden benannt. Dass es daran nicht mangelt, ist leicht einsehbar: Sechs Monate stehen die jungen Menschen unter ständigem Druck des Einsatzes und sind dabei ständig mit anderen Kameraden zusammen, tags wie nachts. "Wer das hier durchsteht, lernt etwas zu schätzen, was sich nur mit einem in Deutschland ziemlich verpönten Wort ausdrücken lässt: Kameradschaft", fasst ein Offizier die Situation zusammen. Angesichts der teilweise chaotische Verhältnisse außerhalb des Feldlagers springt einige Euphorie bezüglich der Leistung der deutschen Soldaten auch auf die Studenten über. Schließlich gehört schon viel dazu, in einem kriegszerstörten Land eine Krankenstation aufzubauen, die sich mit einem Kreiskrankenhaus hierzulande durchaus messen kann. Doch auch hier kritische Stimmen aus der Bundeswehr selber: "Wir müssen aufpassen, dass wir keine Konkurrenz zum lokalen Gesundheitssystem darstellen." Die Behandlung innerhalb des Feldlagers steht allen Menschen offen. Nach einer Woche voller Eindrücke, Gespräche und Diskussion sind in der Abschlussrunde viele der deutschen Studenten sehr ruhig. "Nachrichten aus Kriegsgebieten werde ich nun sicherlich mit ganz anderen Augen betrachten", stellt Studentin Kirsten fest, während der Geschichtsstudent Peter bemerkt: "Man kann ja viel darüber lesen, aber vor Ort alles zu erfahren, ist etwas völlig anderes." So kommt auch der Leiter der Exkursion zum Schluss: "Die Exkursion hat das erreicht, was mir vorschwebte: die deutschen Studenten haben sich kritisch mit einer anderen Kultur auseinandergesetzt und Menschen kennen gelernt, die in einer extremen Situation leben. Sie haben versucht, sich mit ihrer Lebenssituation auseinandergesetzt und es hat etwas bei ihnen ausgelöst."

Ergebnisse der Exkursion wurden auf einer Veranstaltung Ende November im Kulturzentrum PFL einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt.

* Der Autor war als Doktorand im Rahmen der Nachwuchsförderung für ein Jahr am Institut für Soziologie und Sozialforschung (Fachbereich Sozialwissenschaften) tätig und leitete die Delegation nach Sarajevo.

 

(Stand: 19.01.2024)  | 
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