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Bürgerliches Familienmodell nicht mehr einziges Ideal

Jutta Limbach über die gesellschaftliche Einstellung zu berufstätigen Müttern und zur Langlebigkeit eines Vorurteils

Zur Emeritierung der Familiensoziologin Prof. Dr. Rosemarie Nave-Herz (links) am 5. Februar 2003 hielt die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungs-gerichts und heutige Präsidentin des Goethe-Instituts Inter Nationes, Prof. Dr. Jutta Limbach (rechts), den Festvortrag zum Thema „Eine Zukunft ohne Kinder?“ Nachfolgend Auszüge aus der vielbeachteten Rede. Eine Zukunft ohne Kinder? Sterben die Deutschen aus? Zum Glück ist es noch nicht so weit. Doch sprechen unsere Statistiken eine deutliche Sprache, was die Geburten-freudigkeit angeht. Seit dem Jahre 1972 werden jedes Jahr weniger Kinder geboren als Menschen sterben. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland nimmt weiter zu. Ein heute geborener Junge hat die Chance rund 74 Jahre, ein heute geborenes Mädchen hat die Chance rund 80 Jahre alt zu werden. Schon heute lässt sich der Altersaufbau der Bevölkerung nicht mehr mit der grafischen Darstellungsform einer Alterspyramide beschreiben. Die grafische Darstellungsform entspricht eher einer „zerzausten Tanne“ (Flaskämper), einer Tanne, die im unteren Drittel des Stammes schmal ist und erst dann ausfächert, allerdings ohne spitz zuzulaufen.

Aber nicht nur die Altersstruktur unserer Gesellschaft hat sich verändert, sondern auch die Größe der Familien. Der Trend zur Kleinfamilie wird immer stärker. Der Anteil der Einkindfamilien liegt inzwischen bei rund 50 Prozent. 37 Prozent der Familien haben zwei Kinder, während nur in 12,6 Prozent aller Familien drei oder mehr Kinder zu Hause sind.

Die bemerkenswerte Abnahme der Kinderzahl gefährdet nicht nur den so genannten Generationenvertrag, weil die wenigen Kinder später nicht die Renten der immer älter und damit zahlreicher werdenden Ruheständler aufzubringen vermögen. Die geringe Kinderzahl beeinträchtigt die Kinder bereits in ihrer Kindheit und Jugendzeit, weil ihnen die Erfahrung entgeht, Geschwister zu haben. Das ist aus vielen Gründen für ihre Entwicklung nachteilig...

Karriere und Familie schließen sich nicht aus

Statt in kulturpessimistischem Geiste die sinkende Geburtenrate zu bejammern und sie mit den Luxusbedürfnissen, dem Egoismus und dem Selbstverwirklichungswahn irregeleiteter Frauen zu erklären, ist die nüchterne Analyse gefragt. Diese verspricht eher Anregung für Abhilfe als das Verklären der Mutterrolle und das Verteufeln des individuellen Lebensstils. Denn auffällt, dass, wenn man Jugendliche befragt, sie stets den Wunsch äußern, später Kinder haben zu wollen.

Das hat die jüngste, just veröffentlichte Shell-Jugendstudie bestätigt. Die Jugendlichen haben danach nicht nur Freude an der Familie. Übrigens wohnen rund drei Viertel der Jugendlichen zwischen 12 und 25 Jahren noch bei der Herkunftsfamilie. Über zwei Drittel der befragten Jugendlichen wollen später eigene Kinder. Doch Kinderwunsch und Kinderkriegen sind zweierlei: Das Durchschnittsalter, in dem heute Frauen in der Bundesrepublik Kinder bekommen, steigt immer mehr an.

Der Wandel der Mutterrolle

Die Auffassung von der Mutterrolle hat sich bei den jüngeren Generationen grundlegend gewandelt, begünstigt auch durch den Umstand, dass die gegenwärtige Jugend Ideologien weitgehend abhold ist. Das bürgerliche Familienmodell mit der nicht erwerbstätigen Mutter gilt ihnen nicht mehr als einziges Ideal. Wenngleich sich dessen Anhänger gern lautstark zu Wort melden, wenn die Arbeit knapp wird. Seit der Studentenbewegung und der Neuen Frauenbewegung, der verbesserten Ausbildung der Frauen und ihrem veränderten Selbstbewusstsein vollzieht sich allmählich ein Wandel im gesellschaftlichen Denken (Nave-Herz). Die jungen Menschen von heute sind vielfach bereits von berufstätigen Müttern und Vätern aufgezogen worden und können aus eigener Erfahrung darüber urteilen, ob sie dadurch verwahrlost sind, wie es trotz entgegenstehender wissenschaftlicher Erkenntnisse immer wieder einmal gern behauptet wird.

Die Folgen der mütterlichen Erwerbstätigkeit auf die Sozialisation der Kinder sind international bestens erforscht worden. Ein negativer Zusammenhang zwischen beiden Variablen, also Sozialisationsdefizite, sind bei den Kindern nicht festgestellt worden. Hier ist ein vielschichtiges Wirkungsgefüge zu beachten, in dem eine Reihe von Faktoren, wie etwa der Grund der mütterlichen Erwerbstätigkeit, das Qualifikationsniveau und die Berufszufriedenheit der Mutter zusammenwirken. Nicht zu vergessen auch die Qualität der Ersatzbetreuung. Aber auch familiäre Faktoren wie die Kinderzahl und das emotionale Klima in der Familie spielen eine wichtige Rolle.

Entsprechendes gilt übrigens für die Frau, die sich ganztags der Familienarbeit widmet. Auch hier spielt ihre Zufriedenheit mit dieser Tätigkeit eine wichtige Rolle, nämlich ob sie diese Entscheidung frei und im Einvernehmen mit ihrem Mann getroffen hat oder ob ihr angesichts der hohen Arbeitslosigkeit oder wegen der fehlenden Berufsausbildung keine andere Wahl geblieben ist.

Laut der Sozialisationsforschung ist das eigentliche Problem von Kleinkindern nicht die mütterliche Berufstätigkeit selbst, sondern die gesellschaftliche Einstellung dazu. Das zählebige und bei schlechter Arbeitsmarktlage besonders gepflegte Vorurteil, erwerbstätige Mütter hätten eher verwahrloste Kinder, macht die jungen Mütter unsicher und erzeugt Angst- und Schuldgefühle. Diese Ambivalenzkonflikte beeinträchtigen den Umgang von Mutter und Kind und damit dessen Entwicklung empfindlicher als die Berufstätigkeit selbst. Die Zählebigkeit dieses Vorurteils über die schädliche Auswirkung der Berufstätigkeit von Müttern im Kleinkindalter ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Öffentlichkeit von den Forschungsergebnissen noch immer kaum Kenntnis nimmt.

Empirische Untersuchungen zeigen, so resümiert die Soziologin Rosemarie Nave-Herz, „dass diese Mutterideologie zusammen mit den fehlenden Infrastruktureinrichtungen im Westen zu einer hohen Kinderlosigkeit geführt hat und unter Umständen weiter führen wird. Denn immer mehr Mütter schieben ihren Kinderwunsch wegen ihres hohen Berufsengagements und der gleichzeitig gegebenen Vereinbarkeitsproblematik von Beruf und Familie hinaus, in der Hoffnung, zu einem späteren Zeitpunkt eine Lösung ihres Problems finden zu können, bis es dann aber zu spät ist“, und aus der vorläufigen Kinderlosigkeit eine unfreiwillige, lebenslange wird.

Die unflexible Arbeitszeitorganisation und das Fehlen ausreichender Möglichkeiten der Kinderbetreuung sind Fakten, die nach wie vor die Frauen im Arbeitsleben benachteiligen...

Neue Väter braucht das Land

Wie steht es mit dem Wandel der Vaterrolle? Wir sollten uns durch den jüngst in den Medien berichteten Kampf zweier unverheirateter Väter vor dem Bundesverfassungsgericht nicht darüber hinwegtäuschen lassen, dass die neuen Väter eine Minderheit sind, die statistisch nicht ins Gewicht fällt. Sobald aus einem Paar eine Familie wird, spielen sich geradezu zwangsläufig die alten Verhaltensweisen ein. Selbst wenn die Männer die Berufstätigkeit ihrer Frau uneingeschränkt unterstützen, liegen die Familien- und Hausarbeit eindeutig im Verantwortungsbereich der Frau. Immer wieder zeigt sich, dass viele junge Männer in der Theorie ungemein egalitär denken, doch in der Praxis verfahren sie nach dem Motto: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass.“

Die fortschrittliche Haltung der Männer gegenüber dem anderen Geschlecht reicht nur soweit, wie Frauen keine Mütter sind. Das offenbart sich bei dem Erziehungsurlaub, den sowohl Mütter als auch Väter in Anspruch nehmen können. Rund 97,7 Prozent aller Erziehungsberechtigten nehmen Erziehungsgeld in Anspruch. Allerdings sind 98,5 Prozent davon Mütter. Dagegen machen lediglich rund 1 Prozent der Väter von der Möglichkeit Gebrauch, sich frühen Vaterfreuden zu widmen. Lediglich 0,5 Prozent der jungen Eltern haben das im Wechsel gemacht.

Der Frust der neuen Väter

Die verschwindend geringe Zahl von Vätern, die das Abenteuer „Küche und Kinder“ wagen, hat - wie die im Auftrag des Bundesfamilienministeriums durchgeführte Hausmannsstudie ergeben hat - mit großem Frust zu kämpfen. Die Hausmänner fühlen sich „isoliert und unausgefüllt“. Vor allem die ungewohnte Hausarbeit scheint an ihren Nerven zu zerren. So hat einer der befragten Männer geklagt: „Wenn man, sagen wir mal, freitags irgendwo saubergemacht hat, liegt nächste Woche zur selben Zeit an derselben Stelle der gleiche Dreck... .“ Auch der Ausweg dieses vereinsamten Hausmannes, Zuflucht in einer Müttergruppe zu finden, hat sich als Fehlschlag erwiesen. So klagt er weiter: „Irgendwie habe ich mich da draußen gefühlt, weil ich halt ein Mann bin.“ - Übrigens wollte sich keiner der befragten Männer auf Dauer ausschließlich der Familie widmen.

Eine Zukunft mit Kindern

Wer sich eine Zukunft mit Kindern wünscht, darf weder in das kulturpessimistische Gejammer über das Ende der Familie verfallen noch die Familienarbeit verklären. Das dürfte zu nichts führen. Dass Kinder nicht nur Verantwortung und Sorge, sondern auch Bereicherung, Freude und Glück bedeuten, weiß selbst jeder junge Mensch. Die wichtigste Forderung deutscher Frauen an die Politiker lautet nach einer repräsentativen Umfrage des Emnid-Instituts: „Schafft endlich eine Infrastruktur, die es uns ermöglicht, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen.“ Auf die Frage „Angenommen Sie wären Bundeskanzlerin, was würden Sie als erstes ändern?“ gaben 91 Prozent der Befragten an, sie würden mehr Jobs mit Gleit- und Teilzeit schaffen. 88 Prozent würden ausreichend Krippen-, Hort- und Kindergartenplätze bereitstellen. Bei den 14- bis 29-Jährigen waren es sogar 92 Prozent. Die Tatsache allerdings überrascht, dass sich nur 45 Prozent für die Ganztagsschule als Regelschule einsetzen würde.

In anderen Ländern ist ein Teil dieser Forderungen bereits Realität. Nehmen wir das Beispiel Frankreich, wo 99 Prozent der Kinder zwischen drei und sechs Jahren eine vorschulische Betreuung erhalten und die Bezahlung von Tagesmüttern von der Steuer abgesetzt werden kann. Es gibt fast nur Ganztagsschulen, die den Kindern ein Mittagessen anbieten. Die Folge: ein hoher Beschäftigungsanteil von Müttern (60 Prozent) und die höchste Geburtenrate der EU mit 1,8 Kindern pro Frau. In Deutschland liegt sie dagegen bei 1,2 Kindern pro Frau.

Die Kinderfrage ist die Frauenfrage

Es geht mir nicht darum, ein überkommenes einseitiges Familienbild, nämlich das der Hausfrauenehe, durch ein anderes gleichermaßen einseitiges Ideal der Berufstätigenehe zu ersetzen. Es geht darum, dass die den Frauen und Männern eingeräumte Wahlfreiheit nicht eine trügerische bleibt, bei der sich die Frauen nur aussuchen können, welches Problem sie haben wollen ... .

Je mehr Kinder,je mehr Glück

Auch in Zukunft werden sich nicht alle in gleicher Weise verhalten. Es wird nach wie vor männliche wie weibliche Vorlieben geben. Denken wir an die Fußballleidenschaft der Männer oder die Freude der Frauen an der schönen Literatur. Die Bundeswehr wird weiterhin von Männern dominiert sein. Auch mögen vorzugsweise Frauen in den Krippen, den Kindergärten oder in den Familien die kleinen Kinder betreuen. Unsere Zukunftshoffnung ist die, dass die Aufgabenteilung in Beruf und Familie nicht das Produkt sozialer und wirtschaftlicher Zwänge ist, sondern das Resultat einer freien Wahl.

Sie mögen meinen, ich hätte im zweiten Teil meines Vortrags zuviel von den Frauen und Müttern statt von den Kindern gesprochen. Aber nach wie vor, meine Herren und Damen, ist die Frauenfrage die Kinderfrage und die Kinderfrage damit die Frauenfrage.

Wer eine Zukunft mit Kindern erstrebt, darf nicht verbal am „demographischen Abgrund“ entlang turnen und Kinder nur funktional als künftige Rentenzahler in den Blick nehmen. Er muss Martin Luthers Einsicht hochhalten:
„Je mehr Kinder, je mehr Glück!“

Rosemarie Nave-Herz

Mit Prof. Dr. Dr. h.c. Rosemarie Nave-Herz wurde zum Ende des Wintersemesters 02/03 eine der renommiertesten deutschen Familiensoziologinnen emeritiert, die mit nur kurzen Unterbrechungen seit 1967 zur Oldenburger Soziologie gehörte. Nave-Herz studierte Soziologie, Wirtschaftswissenschaften und Germanistik an der Universität Köln, legte 1959 die Diplom-Prüfung ab und promovierte 1963 mit einer Arbeit über die Elternschule.

Ihre wissenschaftliche Laufbahn begann die Soziologin 1965 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. 1967 wechselte sie als Dozentin nach Oldenburg, wurde aber schon drei Jahre später auf einen Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Köln berufen. Doch das war ein Zwischenspiel. 1973 kehrte sie zurück und besetzte die Professur für Soziologie mit den Schwerpunkten Familie, Jugend und Freizeit an der gerade gegründeten Universität Oldenburg. Mehrere Universitäten hätten sie danach gern in ihren Lehrkörper aufgenommen. Sie aber blieb Oldenburg treu. In fast 30 wissenschaftlichen Gremien war sie tätig: Unter anderem gehörte sie dem Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziologie an, war Vorsitzende der DFG-Senatskommission Frauenforschung und Vizepräsidentin des Committee on Family Research der International Sociological Association. Als Gastprofessorin lehrte sie 1985 an der University of Sussex/England und wurde 1986 Nachfolgerin von Rita Süssmuth als Leiterin des Niedersächsischen Instituts für Frau und Gesellschaft.

Auch in der Politik war der Rat von Nave-Herz oft gefragt: Sie war Mitglied zahlreicher Beratergremien - unter anderem Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats für Familienpolitik des Bundesministers für Familie und Jugend und Mitglied der Sachverständigenkommission für den fünften Familienbericht. Gewürdigt wurden ihre Leistungen vielfach. 1995 verlieh ihr die Philosophische Fakultät der Technischen Universität Chemnitz die Ehrendoktorwürde, und 2000 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz.

Zur Ruhe wird sich die große Wissenschaftlerin auch nach der Emeritierung nicht setzen. Forschungsprojekte sollen weiterlaufen und ihre Mitarbeit in Kommissionen und Beiräten ist nach wie vor gefragt.


(Stand: 19.01.2024)  | 
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