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Inhalt 9/2008

Thema


"Ein geschützter Raum mit Glaswänden"

Reto Weiler über das Hans-Wissenschaftskolleg und sein Verständnis als neuer Rektor des Institute of Advanced Studies


Am 22. Oktober 2008 wurde Prof. Dr. Reto Weiler offiziell ins Amt des neuen Rektors des Hanse-Wissenschaftskollegs (HWK) eingeführt. Als Institute of Advanced Studies fördert es seit elf Jahren das Forschungspotential insbesondere der Universitäten Oldenburg und Bremen, indem es GastwissenschaftlerInnen (Fellows) aus aller Welt einlädt, die im Kolleggebäude wohnen und in den Universitäten arbeiten. Das Kolleg, das vom Wissenschaftsrat bei seiner ersten Evaluation sehr positiv bewertet wurde, sei, so Weiler in seiner Rede vor etwa 300 Gästen, „eine soziale Veranstaltung wissenschaftlicher Kreativität und ein Experiment des Verstehens“. Seine Rede nachfolgend im Wortlaut:

Ich hoffe, dass Sie meine Freude nachvollziehen können, dass ich dem Hanse-Wissenschaftskolleg nun als Rektor vorstehen darf. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass es in der gesamten Nordwest-Region die vielleicht spannendste aber auch erfreulichste akademische Leitungsposition ist. Woran liegt das? Sicher nicht nur am reservierten Parkplatz vor dem Eingang und der herausragenden Architektur des Gebäudes, welche sich dem Besucher so einladend öffnet. Nein, es liegt daran, dass ein Advanced Study Institute sozusagen die Königsliga der Wissenschaft darstellt und dieser in einer ganz besonderen Weise verpflichtet ist.

Neuer HWK-Rektor: Reto Weiler: "Experiment des Verstehens".


Wissenschaft entspringt dem menschlichen Wahrheitswillen und im Zentrum der Wahrheitssuche steht als Medium das Gespräch, und ein Advanced Study Institut ist nun in erster Linie und fast ausschließlich diesem Gespräch verpflichtet und nimmt damit eine exklusive und elitäre Sonderstellung innerhalb der verschiedenen akademischen Institutionen ein. Nun wissen wir alle, dass die modernen Wissenschaften ohne Spezialkenntnisse und ohne eine Vielfalt von Disziplinen nicht zu haben sind und ein Gespräch zwischen diesen schwierig ist. Die in diesen Disziplinen entwickelten Fachsprachen schließen nicht nur den interessierten Laien aus, sondern auch die Kollegin oder den Kollegen der Nachbardisziplin, die schon genug Mühe mit dem eigenen Fachchinesisch haben. Was also tun, um die Sprachlosigkeit zu überwinden? Der reine Appell, man müsse nur miteinander reden, wie er der Wissenschaft häufig aus der Politik entgegenschallt – die ja im erfolgreichen miteinander Reden besonders geübt ist! – hilft wenig und ist höchstens gut für endlose Talkrunden zu später Stunde, wo Interdisziplinarität schnell zum Dilettantismus verkommt. Nein, die Überwindung der Sprachlosigkeit braucht eine andere Institution, braucht keine Zuschauer, braucht Zeit, braucht einen organisatorischen Rahmen – eben ein Advanced Study Institute.

Das klingt ein wenig nach Elfenbeinturm der Wissenschaft, der ja bekanntlich heute ausgespielt hat. Wobei man anmerken muss, dass doch recht häufig gerne gerade die Leute für sich in Anspruch nehmen, den Elfenbeinturm gegen das Feuilleton ausgetauscht zu haben, die ihn nie betreten haben! Das HWK will kein Elfenbeinturm sein, aber doch ein geschützter Raum für die Wissenschaft. Und zwar mit Glaswänden, damit die da drinnen sehen, was die da draußen
bewegt, und die da draußen sehen, dass drinnen gearbeitet wird.

Experiment des Verstehens

Das HWK als Advanced Study Institute ist im besten Sinne ein Experiment des Verstehens. Wir schaffen am HWK die Voraussetzungen, dass sich dort nicht nur Menschen treffen, sondern deren Gedanken. Wo Gedanken sich treffen, ist Verstehen erst möglich. Und Verstehen steht am Anfang der Lösung von Problemen und Aufgaben. Verstehen erst schafft Nähe zwischen Personen und begründet Vertrauen als die wichtigste Voraussetzung menschlicher Gemeinsamkeit. Der Prozess des Verstehens ist nicht immer ein leichter und als solcher eine stetige Herausforderung, immer aber ist er im Gelingen mit Freude verbunden. Es ist unser Ziel, sie alle in diesen Prozess und diese Freude einzubeziehen, indem wir immer wieder unser Institut öffnen für öffentliche Vorträge, Seminare und Kurse. Wir glauben an die Macht der Gedankentreffen.

Ich möchte mich an dieser Stelle explizit bei den beiden Bundesländern Bremen und Oldenburg und der Stadt Delmenhorst bedanken, die diesen Ort des Verstehens ermöglicht haben. Und natürlich möchte ich mich bei meinem Vorgänger im Amt, Herrn Professor Gerhard Roth, ganz herzlich bedanken. Es ist mir wohl bewusst, dass ich in große Fußstapfen trete, wovor man eigentlich eher zurückschrecken sollte. Wenn ich mich dennoch entschlossen habe, das Amt anzutreten, dann auch deshalb, weil ich aus eigener Erfahrung weiß, dass große Fußstapfen immer auch daher kommen, dass man den Weg nicht alleine gegangen ist, sondern immer von einer Reihe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern begleitet wurde, und diese in unserem Fall auch weiterhin zum Team des HWK gehören. Ihnen möchte ich hier auch meinen besonderen Dank aussprechen.

Im Zentrum der Aufgaben des HWK steht selbstverständlich das Fellowprogramm. Das bedeutet Förderung der Wissenschaft durch Förderung des Wissenschaftlers, der Wissenschaftlerin. Dazu werden die international besten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den Schwerpunktbereichen des HWK, den Neurowissenschaften, den Sozialwissenschaften, den Meereswissenschaften und den Materialwissenschaften für einige Monate an das HWK eingeladen. Hier leben und arbeiten sie zusammen, sind aber auch in den meisten Fällen eingebunden in Kooperationsprojekte mit den Universitäten Bremen und Oldenburg und der Jacobs University. Wenn die einzelnen Fellows auch durchaus ihre eigenen Forschungsprojekte während ihres Aufenthaltes vorantreiben, so dient der Aufenthalt genauso der intensiven Einbindung in die übergreifenden Themen des HWK. Diese werden neben dem Fellowprogramm getragen von Tagungen und Workshops. Ich möchte hier nur kurz drei dieser übergreifenden Themen erwähnen, denen wir uns in den nächsten drei Jahren intensiv annähern wollen:

In den Neurowissenschaften wird ein solches Thema sein: Kulturelle Intelligenz. Menschen haben eine „ultra-soziale“ Intelligenz, die es ihnen ermöglicht, unterschiedliche kulturell definierte Gruppen zu bilden, was wiederum eine besondere „Theorie des Geistes“ voraussetzt. Die neurobiologischen Voraussetzungen dazu sind noch weitgehend unverstanden.
In den Meereswissenschaften wird ein solches Thema sein: Das Gedächtnis der Meere. Zwei Drittel der Erdbevölkerung leben in Küstenräumen und damit vom und mit dem Meer. Jüngste Befunde zeigen, dass bereits vor 160.000 Jahren Meeresfrüchte auf dem Speiseplan des Menschen standen, also zu Beginn des modernen Menschen. Wir werden uns hier vor allem auf die Nordsee im globalen Wandel konzentrieren und dabei Klimaforschung, Küstenforschung und sozioökonomische Aspekte zusammenbringen.

In den Sozialwissenschaften wird ein solches Thema sein: Am Ende Vertrauen!? (mit einem Ausrufezeichen und einem Fragezeichen). Die vertragliche Regelung stößt bei komplexen Gebilden zunehmend an ihre Grenze. Die Annahme, dass Menschen rational handeln und den Vorteil für sich suchen, unterschlägt die Wirkung moralischer Prinzipien und kultureller Vorgaben. Als neues Element wird das Vertrauen als Grundlage von Entscheidungsprozessen wieder entdeckt. Wie aber entsteht Vertrauen?

Brennpunkt Wahrheitssuche

Das HWK ist bei der Bearbeitung dieser Themen ein Brennpunkt der Wahrheitssuche. Wir sprechen dabei von Suche, wissend, dass es weder absolutes Wissen noch absolute Wahrheit gibt. Wissen entsteht evolutiv und ist damit prinzipiell offen und ohne Richtung; es gibt keine absolute Ordnung des Wissens. Wissenschaft kann auch keine Antwort über ihren eigenen Sinn geben – sehr zur Verzweiflung der Finanzpolitiker, die sich deshalb so schwer tun, in Universitäten und Advanced Study Institute zu investieren.

Trotz dieser Einsichten darf die Suche nach Wahrheit nie aufgegeben werden. Damit wir die Suche nicht aufgeben, müssen Denk- und Sehgrenzen gesprengt werden, um den Weg zur Eroberung neuer Welten freizugeben. Wollen wir das Verhältnis von Lebenszusammenhängen neu bestimmen, so brauchen wir Mittel, die uns unserem unmittelbaren Lebenszusammenhang entrücken. Der Aufenthalt an einem Advanced Study Institute ist ein solches Mittel, da er die Fellows für eine bestimmte Zeit aus dem Alltag entrückt und neuen intellektuellen und kulturellen Herausforderungen aussetzt. Von großer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass diese Entrückung verbunden wird mit einer entsprechenden ästhetischen Erfahrung. Denn Kunst und Wissenschaft erobern sich im besten Fall den noch unbekannten dunklen Raum gemeinsam: die Kunst tastet ihn als erstes metaphorisch ab und die Wissenschaft gibt ihm am Ende die begriffliche Dimension. Wir erwarten zu Recht Visionen und sollten dabei nicht vergessen, dass auch die verblüffendste Vision aus der Wirklichkeit gemacht ist. Wer nichts sieht, hat auch nichts im Hirn. Deshalb sind wir dabei, für das HWK nicht nur ein wissenschaftliches Konzept aufzustellen, sondern gleichzeitig ein ästhetisches Gesamtkonzept zu entwickeln, welches die künstlerische Ausgestaltung der Räumlichkeiten ebenso umfasst, wie die Aufnahme von Fellows aus dem Bereich der Kunst. Dass wir uns dazu mit den entsprechenden Organisationen der Region vernetzen, versteht sich von selbst und Sie sind heute Abend Zeuge der ersten Anstrengungen in dieser Richtung. Nicht nur dass Ensemblemitglieder des Staatstheaters Oldenburg auftreten, nein, wir alle erleben auch die Uraufführung einer für das HWK geschaffenen Komposition von Frau Dinescu, einer weltweit gefeierten Komponistin und Inhaberin einer Professur an der Universität Oldenburg.

Kraftzentrum der Region

Das HWK ist ein Kraftzentrum der Region. Von ihm sollen Anregungen nicht nur in die internationalen Wissenschaftsdebatten der entsprechenden Schwerpunktbereich einfließen, sondern auch Anregungen in die Gestaltung der Lebenswirklichkeiten dieser Region. Wir werden immer wieder auf Sie zugehen und nicht nachlassen, Sie zum akademischen Diskurs im besten Sinne zu verführen. Die Wissenschaft ist auch dazu da, unsere Ängste in Schach zu halten, die jedes Leben mit sich bringt. Auch wenn sich dabei Axiome als vorläufig erweisen, so geben sie uns mindestens in der Zeit, wo sie unverrückbar erscheinen den notwendigen Halt im Chaos und grenzen mit ihrer kraftvollen Struktur unsere Ängste auf ein erträgliches Maß ein.
Ich habe vorhin die kulturelle Intelligenz als das bezeichnet, was uns zum Menschen macht. Wir können nicht übersehen, dass kulturelle Intelligenz einem starken Erosionsprozess unterworfen ist. Der Verlust kultureller Intelligenz führt dabei auch zu einem Verlust der Vergangenheit, und ohne diese wird die Hoffnung auf eine erlösende Zukunft, die der bedrückenden, weil nicht mehr verstandenen, Gegenwart eine Ende bereitet, zu einem gefährlichen Zustand. Wenn wir als HWK dazu beitragen können, dass die Gegenwart selbst zur erlösenden Zukunft wird, haben wir unser vornehmstes Ziel erreicht.

Doppelfunktion des Rektors

Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal ganz kurz und prägnant zusammenfassen, was das HWK ist: Das Kolleg ist eine soziale Veranstaltung wissenschaftlicher Kreativität und ein Experiment des Verstehens. Dem Rektor kommt dabei eine Doppelfunktion zu: einmal ist er wissenschaftlicher Leiter des Experiments und gleichzeitig Intendant der sozialen Veranstaltung. Viele von den Anwesenden kennen mich nun ja ein bisschen besser und wissen, dass ich zwar leidenschaftlicher Wissenschaftler bin, aber immer davon geträumt habe, Intendant eines Opernhauses zu sein. Vielleicht verstehen Sie jetzt noch besser, weshalb ich anfangs dieses Amt als das spannendste und erfreulichste bezeichnet habe. Gemeinsam mit meinem Team freue ich mich auf die vor uns liegenden Spielzeiten und baue auf Ihre Unterstützung.

(Stand: 19.01.2024)  | 
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