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Inhalt 1/2010


Thema


"Widerstand ist, was uns verbindet"

Chronik der Oldenburger Studierenden-Proteste / Vierwöchige Besetzung


Donnerstag, 19. November

„Wir haben eigentlich keine Zeit zum Demonstrieren, aber heute nehmen wir sie uns“ – so lautet der Aufruf auf dem Flugblatt, das alle Studierenden um 15.00 Uhr in den Hörsaal 3 des Hörsaalzentrums einlädt. Der Studierendenprotest ist in Oldenburg angekommen. Die Veranstaltung muss wegen der vielen TeilnehmerInnen in Hörsaal 1 verlegt werden. Gegen 16.00 Uhr sind der Bildungsstreik und die Besetzung des Hörsaalzentrums beschlossen. 300 Studierende sammeln sich zu einem Flashmob und blockieren die Kreuzung Ammerländer Heerstraße/Uhlhornsweg. Nach einer Stunde schafft es ein Linienbus der VWG die DemonstrantInnen zu passieren, alle anderen Fahrzeuge drehen um. Gegen 17.00 Uhr genehmigt die Polizei eine Spontandemonstration zum Julius-Mosen-Platz. Eine kleine Gruppe Studierender geht in das besetzte Hörsaalzentrum zurück und beginnt mit der thematischen Ausarbeitung des Streiks.

Freitag, 20. November

Der Hörsaal 3 ist inzwischen zum Schlaf- und Wohnzimmer der Protestierenden umfunktioniert worden. Auf einem Matratzenlager haben 50 Studierende die Nacht verbracht. Hinter der Trennwand zu Hörsaal 1 und 2 wurde eine zehn Meter lange Verpflegungsmeile eingerichtet. Arbeitsgruppen haben sich gebildet. Auf dem Universitätsgelände wird mit Flyern nach „MitbewohnerInnen“ für die „ca. 150-köpfige WG“ im Audimax gesucht, „die keine reine Zweck-WG ist und in der politische Diskussionen geführt werden“. Die Arbeitsgruppe „Alternative Uni“ erarbeitet einen Stundenplan mit Vorlesungen und Vorträgen, die im besetzten Hörsaalzentrum stattfinden sollen.

Montag, 23. November

Die Studierenden diskutieren ihre in Arbeitsgruppen und im Plenum verabschiedeten Forderungen und verfassen einen Offenen Brief. Zwei Studentinnen, die – wie sich später herausstellte – nicht vom Plenum autorisiert waren, besuchen den Vizepräsidenten für Studium und Lehre, Prof. Dr. Mathias Wickleder, um über den Bildungsstreik zu sprechen. Er lädt die Studierenden in die Studiendekane-Runde ein, um dort über die Forderungen zu diskutieren. Das Foyer des Hörsaalzentrums ist mit Plakaten ausgestattet. Jaspers´ Zitat „Wahrheit ist, was uns verbindet“ über der Telefonzentrale lautet jetzt „Widerstand ist, was uns verbindet“.


Dienstag, 24. November

Der Offene Brief der protestierenden Studierenden wird veröffentlicht und dem Präsidium übergeben. SchülerInnen der Helene-Lange-Schule solidarisieren sich mit den Streikenden. In der Aktion „Bildungsmüll“ kommen sie in Müllsäcken gekleidet in die Schule und zeigen, dass Bildungspolitik auch SchülerInnen betrifft. Im Plenum der protestierenden Studierenden wird zum ersten Mal über den ElternCampus, eine für den kommenden Sonnabend geplante Großveranstaltung mit 2.000 erwarteten Besuchern, diskutiert. Ein erheblicher Teil der Veranstaltungen des „2. Oldenburger ElternCampus“ war für das Hörsaalzentrum geplant. Aus dem Plenum heraus bildet sich eine Gruppe, die mit den OrganisatorInnen der Veranstaltung – VertreterInnen der Stabsstelle Presse & Kommunikation und der Studienberatung – diskutiert, ob und wie der „ElternCampus“ trotz Besetzung des Hörsaalzentrums durchgeführt werden kann.

Mittwoch, 25. November

Nach einem erneuten Treffen der Verantwortlichen des „ElternCampus“ und der Studierendengruppe wird der „ElternCampus“ auf den 17. April 2010 verschoben. Beide Seiten hatten sich um einen Kompromiss bemüht, aber die unterschiedlichen Interessen ließen sich nicht vereinbaren. Das Präsidium betont, dass von einer Räumung des Hörsaal-Gebäudes abgesehen wird. Abends wird im Plenum beschlossen, dass ein „Alternativer ElternCampus“ stattfinden soll. Die Gruppe „Alternative Uni“ übernimmt die Organisation.

Donnerstag, 26. November

Knapp 2.000 StudentInnen und SchülerInnnen schließen sich um 14.00 Uhr zu einer Demonstration zusammen. Die TeilnehmerInnen ziehen vom Bahnhof zum Pferdemarkt, wo der Großteil des Verkehrs zum Erliegen kommt. Von dort wird der Protestzug in Richtung Universität fortgesetzt. Gegen 17.00 Uhr treffen die Protestierenden dort ein. Eine Abschlusskundgebung findet vor dem besetzten Hörsaalzentrum statt.

Freitag, 27. November

Die Fakultät III veranstaltet auf Initiative des Vizepräsidenten für Studium und Lehre einen Runden Tisch „Bologna“. Die „Runden Tische“ sollen – so Wickleders Anregung im Herbst – in allen Fakultäten stattfinden. Ziel ist es, die Missstände und Probleme des Bachelor-Master-Systems zu diskutieren und die „Reform der Reform“ voranzutreiben. Niedersachsens Wissenschaftsminister Lutz Stratmann sagt kurzfristig seinen geplanten Vortrag im Oldenburger Schloss ab. Eine Protestgruppe von 30 Studierenden trägt dennoch auf der Veranstaltung ihre Forderungen vor.

Sonnabend, 28. November

Der „Alternative ElternCampus“ lädt die Eltern der Studierenden in die Universität ein, um über die Missstände des Studiums zu informieren. Einige Eltern nehmen an den Informationsveranstaltungen und an einer Campus-Führung teil, die Universitäts-Bigband Souled Out gibt ein Konzert.

Montag, 30. November

Die Studierenden sagen die Teilnahme an der Studiendekane-Runde kurzfristig ab. Die Begründung: Nur im Plenum seien sie entscheidungsfähig, eine Entsendung von VertreterInnen käme nicht infrage.

Dienstag, 1. Dezember

Die Kommissarische Präsidentin Dr. Heide Ahrens und Vizepräsident Wickleder besuchen das Plenum und beantworten Fragen der Protestierenden. Zeitgleich wird die erste öffentliche Stellungnahme des Präsidiums zu den Protesten veröffentlicht. Das Präsidium signalisiert seine deutliche Bereitschaft, mit den Studierenden weiterhin konstruktiv über ihre Forderungen zu diskutieren und die Umsetzung voranzutreiben.

Mittwoch, 2. Dezember

Die Fakultät IV veranstaltet einen Runden Tisch „Bologna“ mit 100 TeilnehmerInnen.

Donnerstag, 3. Dezember

Wie vereinbart, erreicht die Studierenden gegen 12.00 Uhr ein Brief des Präsidiums, in dem nochmals konkrete Vorschläge zur gemeinsamen Lösung der Probleme gemacht werden. Um 14.00 Uhr findet eine Vollversammlung statt. Dort diskutieren etwa 500 Studierende über ihren Offenen Brief an das Präsidium. Die Vollversammlung unterstützt die Forderungen der protestierenden Studierenden. Um 18.00 Uhr bildet sich im Plenum die „Kommunikationsgruppe“, die befugt ist, mit dem Präsidium zu verhandeln.

Freitag, 4. Dezember

Die Kommunikationsgruppe sagt einen Gesprächstermin mit Wickleder, der Bologna-Beauftragten Dr. Ursula Blömer und FakultätsvertreterInnen kurzfristig ab. Begründung: Die Gruppe hat sich heute zum ersten Mal getroffen und hatte somit zu wenig Zeit, sich auf das Treffen vorzubreiten.

Montag, 7. Dezember

Alle Seminare und Vorlesungen, die normalerweise im Hörsaalzentrum stattfinden, werden in dieser Woche ins Technologie- und Gründerzentrum (TGO), ins Kulturzentrum PFL und in die Weser Ems Halle verlegt.

Dienstag, 8. Dezember

Das Gespräch zwischen FakultätsvertreterInnen und protestierenden Studierenden, das am Freitag kurzfristig abgesagt wurde, findet um 18.00 Uhr im Hörsaalzentrum statt. Neben der Kommunikationsgruppe nehmen etwa 15 weitere Studierende als ZuhörerInnen ohne Rederecht teil.

Mittwoch, 9. Dezember

Die protestierenden StudentInnen formulieren in einem weiteren offenen Brief an das Präsidium konkrete Ergebnisse, die sie als „Grundvoraussetzung für die Beendigung der vollständigen Besetzung des Hörsaalzentrums“ ansehen. Die Fakultät I veranstaltet um 16.00 Uhr den Runden Tisch „Bologna“ im Bibliothekssaal mit rund 80 TeilnehmerInnen.

Donnerstag, 10. Dezember

Das Präsidium veröffentlicht eine „Zweite Öffentliche Erklärung zum Bildungsstreik und zur ,Reform der Reform’ des Bachelor-Master-Systems“. In der Erklärung ist zu lesen, welche Forderungen der Studierenden bereits erfüllt sind und wie mit weiteren Forderungen umgegangen werden soll.

Montag, 14. Dezember

Um 14.00 Uhr findet ein erneutes Treffen der Kommunikationsgruppe mit Wickleder, Blömer und FakultätsvertreterInnen sowie mit Helga Wilhelmer, Dezernentin des Dezernats für Studentische und Akademische Angelegenheiten, statt. Etwa 20 Studierende nehmen als ZuhörerInnen ohne Rederecht teil.

Mittwoch, 16. Dezember

Der öffentliche Teil der Senatssitzung beginnt um 10.30 Uhr und wird in den Hörsaal 3 verlegt, da rund 150 Studierende unter den Zuhörern sind. Thema sind die Forderungen der Protestierenden, die als Beschlussvorlage in den Senat eingebracht wurden. Beschlossen werden in der rund vierstündigen Sitzung u.a. die Abschaffung der Anwesenheitspflicht und die Festlegung von einer Prüfungsleistung pro Modul. Um 17.00 Uhr gibt die Arbeitsgruppe „Presse“ der protestierenden Studierenden die Beendigung der vollständigen Besetzung des A14 bekannt. Um 18.00 Uhr veranstalten die Protestler eine Weihnachtsfeier.

Donnerstag, 17. Dezember

Mit einem Flashmob unter dem Motto „Widerstand ist tanzbar“ treffen sich knapp 100 Studierende im Mensagebäude und veranstalten – angeführt von einem Dudelsack-Spieler – eine Polonaise zum A14. Dort wird die Besetzung des Hörsaalzentrums beendet. Die Protestierenden beziehen Streikbüros in Seminarräumen, außerdem stellt ihnen das Präsidium im Wintersemester täglich ab 18.00 Uhr den Hörsaal 1 zur Verfügung.


www.oldenburg-brennt.de

 

Offener Brief der Protestler

 

In einem offenen Brief an das Präsidium formulierten die protestierenden Studierenden am 24. November ihre Ziele. Der Brief in Auszügen:

Keine Standardisierung von Bildungsinhalten!
Modultitel versprechen Inhalte, die nicht durch die angebotenen Veranstaltungen eingelöst werden. Dennoch sind wir für standardisierte Module, aber nicht für standardisierte Inhalte. (…)

Kreatives Lernen statt Reproduktion!
Die Vermittlung der immer gleichen Inhalte und Methoden führt zu dogmatischen Denkblockaden und der Entstehung einseitiger methodischer Schulen an der Universität. Wir wünschen stärker in die Wissenschaft eingebunden zu werden, anstatt mit „Lernen-und-sofort-Vergessen“-Wissen abgespeist zu werden. (…)

Prüfungsleistungen und Prüfungsdruck reduzieren!
Die Menge der Prüfungsleistungen im BA-/MA-Studium ist zu groß. Die Fülle der Leistungsnachweise (…) sorgt dafür, dass Wissen nicht nachhaltig gespeichert werden kann. (…)

Anwesenheitspflicht abschaffen!
Entgegen der vom Präsidium festgelegten Regelung ist die Einführung von Anwesenheitslisten durch viele DozentInnen gängige Praxis. Dies beeinträchtigt besonders Studierende, die ohnehin einer besonderen Belastung ausgesetzt sind. (…)

Verlängerung der Regelstudienzeit, damit sich die Arbeitsbelastung reduziert!
(…) so dass kein Zwang mehr besteht, das Studium in kürzester Zeit abzuschließen. (…) Diese von uns geforderte Verlängerung (…) würde praktisch dazu führen, dass zum Beispiel BAföG länger gewährt wird. (…)

Mitbestimmung und Transparenz in der Verteilung der finanziellen Mittel für alle Studierenden!
(...) Dies bedeutet nicht nur die Forderung nach Transparenz über die Verwendung der Studiengebühren, sondern aller Finanzen der Universität. (…)

Abschaffung aller Bildungsgebühren!
Bildungsgebühren verwehren breiten Schichten der Bevölkerung den Zugang zu Bildung. (…) Bildung muss wieder frei werden!

 

(Stand: 19.01.2024)  | 
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