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Hochschulzeitung UNI-INFO

Inhalt 9/2010

Thema

Den Einzelnen herausfordern

Schülercampus „Mehr Migranten werden Lehrer“ erstmals in Niedersachsen

Im November nahmen 31 SchülerInnen mit Einwanderungsgeschichte am Schülercampus „Mehr Migranten werden Lehrer“ an der Universität Oldenburg teil. Während der Orientierungsveranstaltung lernten sie die Vielfalt des Lehrerberufs kennen, sprachen mit PraktikerInnen über Berufswege, Aufstiegsmöglichkeiten oder Fächerwahl und hospitierten an Schulen. Dabei bekamen sie Gelegenheit zum Austausch mit ExpertInnen, insbesondere mit LehrerInnen und Lehramtsstudierenden, die selbst eine Einwanderungsgeschichte haben.

Vizepräsidentin Prof. Dr. Gunilla Budde, die den Schülercampus eröffnete, betonte, dass LehrerInnen mit Migrationshintergrund eindrucksvolle Rollenvorbilder für die SchülerInnen seien. „Sie führen ihnen tagtäglich vor Augen: Wir haben es geschafft. Das kannst du auch! Solche ‚role models‘ sind Brückenbauer und Herzstück einer interkulturellen Schulentwicklung“, sagte Budde.

„Der Schülercampus ‚Mehr Migranten werden Lehrer‘ gibt Orientierung und ermutigt zum Lehramtsstudium“, unterstrich Prof. Dr. Michael Göring, Vorstandsvorsitzender der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius in Hamburg, bei der Auftaktveranstaltung. „Wir haben dieses Projekt initiiert, weil Deutschlands Schulen mehr Lehrer mit Zuwanderungsgeschichte brauchen. Unser Impuls will den Einzelnen herausfordern, um die Schule und damit auch die Gesellschaft zu bereichern.“
Für Dr. Stefan Porwol, Staatssekretär im Niedersächsischen Kultusministerium, hat die Veranstaltung „Vorbildcharakter, weil sie vor Augen führt, wie eine gelungene Integrationspolitik funktioniert“.

Das Projekt Schülercampus zielt auf ein Grundproblem allgemeinbildender Schulen in Deutschland: Fast jeder dritte Schüler ist nichtdeutscher Herkunft. In manchen Großstadt-Schulen liegt der Anteil über 60 Prozent, in einzelnen Klassen bis zu 90 Prozent. LehrerInnen mit Einwanderungsgeschichte bilden noch die Ausnahme – deutschlandweit sind es nur zwei Prozent.

Das bundesweit einmalige Orientierungsangebot gab es erstmals 2008 in Hamburg. Inzwischen findet „Mehr Migranten werden Lehrer“ jährlich auch in Nordrhein-Westfalen und Bay-ern statt. Der Schülercampus ist eine Initiative der ZEIT-Stiftung und wurde in Oldenburg in Kooperation mit dem Niedersächsischen Kultusministerium und der Universität veranstaltet. Förderer waren die Niedersächsische Lotto-Sport-Stiftung, die TUI Stiftung und die EWE Stiftung. Unterstützt wurde die Veranstaltung vom Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration sowie dem Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur. (cdb)

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„Migration gehört zum Leben“

Schülercampus: Auszüge aus der Begrüßungsrede von Vizepräsidentin
Gunilla Budde / „Mehr Mittel in unser Bildungssystem investieren“

"Menschen mit Migrationshintergrund“ oder „Menschen mit Einwanderungsgeschichte“: Man ringt ganz offensichtlich darum, Ihre Biographie, liebe Schülerinnen und Schüler, auf einen Begriff zu bringen. Unabhängig davon, dass dies ihr Leben auf nur einen Aspekt verkürzt, der noch dazu einigen vielleicht gar nicht mal der wichtigste ist, wird in der augenblicklichen Diskussion häufig suggeriert, es hier mit einem relativ neuen Phänomen zu tun haben. Ich bin nicht nur Vizepräsidentin dieser Universität, sondern auch Historikerin. Deshalb muss ich auch über diese semantischen Bemühungen lächeln, zumindest ein bisschen. Denn: Migration im Lebenslauf ist keineswegs neu. Historisch gesehen gehörte sie zum Leben des Menschen, mal freiwillig, mal gezwungen, gleichsam mit dazu. Und dies seit langem. (…)

Ich möchte mit diesen Bemerkungen keine Probleme weg- oder schönreden – sondern unsere heutige Sichtweise relativieren. Was in der Vergangenheit sicherlich nicht unproblematisch war, aber zur Selbstverständlichkeit gehörte, kann in der Zukunft ebenso zur Normalbiographie werden.

Natürlich gibt es auch in Deutschland Probleme, die gemeinhin unter dem Stichwort „Integration“ zusammengefasst werden und die in jüngster Zeit keineswegs immer konstruktiv, geschweige denn glücklich in Stil und Impetus, lautstarker als zuvor in der Öffentlichkeit diskutiert wurden. (…)
Gleichwohl, und das möchte ich an dieser Stelle betonen, steht es mit der Integration in Deutschland bei weitem besser als gemeinhin angenommen. So kommt das aktuelle „Jahresgutachten Einwanderungsgesellschaft 2010“ zu dem Schluss:

„Im internationalen Vergleich ist ‚die Integration‘ in Deutschland keineswegs gescheitert. Sie ist vielmehr in vielen empirisch fassbaren Bereichen durchaus zufriedenstellend oder sogar gut gelungen. Zudem stehen beide Seiten der Einwanderungsgesellschaft – das heißt die Menschen mit und ohne Migrationshintergrund – „den Anforderungen von Zuwanderung und Integration pragmatisch und zuversichtlich gegenüber“. Grundlage des sehr fundierten Gutachtens ist eine ausführliche Befragung von 5.600 Personen nach dem Zufalls-prinzip, davon 80 Prozent Personen mit Migrations- und 20 Prozent ohne Migrationshintergrund.

Bezeichnenderweise wird über dieses Gutachten in der Öffentlichkeit wenig geredet, sind seine Ergebnisse nur wenigen bekannt. Auch hier bestätigt sich mal wieder eine historische Regel: Schlechte Nachrichten rütteln auf, gute geraten darüber häufig in den Schatten.
Trotz seiner insgesamt deutlich positiven Bewertung verschweigt das Gutachten aber auch nicht die Problemfelder der Integration: „Die Unzulänglichkeiten des Bildungssystems“, heißt es dort, „treffen Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund wegen ihrer integrationsspezifischen Zusatzbelastungen in besonderem Maße.“ (…) Damit ist nicht zuletzt unser Schulsystem gemeint. Ein Schulsystem, das viel, vielleicht zu viel Einsatz der Eltern voraussetzt – einen Einsatz, den Eltern mit Einwanderungsgeschichte in der Regel nicht leisten können – aber sehr viele ohne Einwanderungsgeschichte eben auch nicht.

Wollen wir hier wirklich grundlegend etwas ändern, so werden wir nicht umhin kommen, weit mehr Mittel als bisher in unser Bildungssystem zu investieren. Und zwar mit gezielter Förderung der bislang besonders Benachteiligten. Das sind vor allem die Kindergärten. Auch die Grund-, Förder- und Hauptschulen, und hier wieder besonders die an sozialen Brennpunkten. Bildung und Integration sind nicht umsonst zu haben. Sie kosten Geld. Viel Geld.


Vereinfachungen und spürbare Trennlinien

von Rudolf Leiprecht*

Ausländer, die als besonders gut integriert gelten, betrachten sich selbst nicht selten als schlecht integriert. Einige entscheiden sich dafür, wieder abzuwandern. Angesichts einer von Negativ-Bildern bestimmten Migrationsdebatte ist es wichtig, öffentlich positive Zeichen zu setzen. Ein Kommentar von Prof. Dr. Rudolf Leiprecht.

Drei Thesen waren es, die Helma Lutz und ich im Februar 2006 als Reaktion auf eine heftige und sehr emotional geführte öffentliche Debatte zum Thema „Islam in Deutschland“ publizierten (vgl. www.ida-nrw.de/). Die erste These: Die einseitige und verallgemeinernde Problematisierung von (islamischen) Eingewanderten wirkt sich negativ auf das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit aus und hat einen kontraproduktiven Effekt in Bezug auf die Integration. Die zweite These: Simplifizierungen und Polarisierungen werden den diversen Lebenswelten von Eingewanderten nicht gerecht. Und schließlich die dritte: Skandalöse Einzelereignisse (zum Beispiel so genannte Ehrenmorde) haben für die Medien offenbar einen hohen Marktwert. Eine sinnvolle und sachliche Debatte zu Integration lässt sich jedoch hierauf kaum aufbauen.

Mehr als viereinhalb Jahre später könnten wir den gleichen Aufsatz noch einmal veröffentlichen. Diesmal sind es der „Spiegel“ und die „Bild-Zeitung“, die den Ausführungen von Thilo Sarrazin eine breite Plattform gaben, um wieder einmal eine Debatte anzustoßen, in der Bedrohungsszenarien und einseitig polarisierende Denkmuster dominieren. Der Tenor der Debatte ist auch diesmal, dass ein (angebliches) Tabu gebrochen und endlich die Wahrheit ausgesprochen werden muss. Eine merkwürdige, aber offenbar doch sehr wirksame Argumentationsfigur, die allerdings alle Erkenntnisse der Rassismusforschung ignoriert. Wir können davon ausgehen, dass große Gruppen in der Gesellschaft regelmäßig einseitige Negativ-Bilder zu Eingewanderten äußern, und leider haben diese Äußerungen auch eine Wirkung auf diejenigen, über die hier jeweils geredet wird. Von „Tabubruch“ kann also keine Rede sein.

Über die Wirkungen solcher Debatten werden auch am Interdisziplinären Zentrum für Bildung und Kommunikation in Migrationsprozessen (IBKM) Forschungsarbeiten durchgeführt. So hat beispielsweise Barbara Schramkowski im Rahmen ihrer Promotion MitarbeiterInnen in Beratungsstellen und Migrationsdiensten darum gebeten, ihr junge Eingewanderte für Interviews zu vermitteln, die von den Fachkräften als „besonders gut integriert“ angesehen wurden. Eigentlich wollte sie feststellen, welche Gründe es dafür gab, dass die jungen Leute so weit gekommen waren. Zu ihrem Erstaunen stellte sie fest, dass die meisten der Befragten zwar allesamt nach den üblichen Kriterien (Bildungserfolg, Berufsaussichten, Beherrschung der deutschen Sprache, Staatsangehörigkeit etc.) „gut integriert“ waren, sich selbst jedoch keineswegs als „integriert“ betrachteten.

Die alltäglich spürbaren Trennlinien zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, die kleinen Sticheleien, die etwas seltener erlebten größeren Beleidigungen und Bedrohungen und die öffentlichen Diskurse, die gesellschaftliche Probleme wie Kriminalität, Arbeitslosigkeit und Terrorismus allzu oft mit Einwanderung in Verbindung brachten: All dies vermittelte ihnen den Eindruck, eigentlich doch nicht „richtig“ dazu zu gehören. Irgendwie schien das Integrationsangebot nur auf Abruf und nur unter Vorbehalt zu gelten: Wenn sie arbeitslos werden würden, so ihre Vermutung, dann gehörten sie aus der Sicht vieler Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft eben nicht zum deutschen Arbeitslosenproblem, sondern würden plötzlich zu arbeitslosen Ausländern, zu einem Ausländerproblem. Es bedarf keiner großen Phantasie, sich vorzustellen, dass gerade diese Gruppe der Eingewanderten ihr Glück in einem anderen Land suchen könnte, und in der Tat: Eine solche Abwanderung ist gegenwärtig zu beobachten.

In einer solchen Situation ist es wichtig, öffentlich positive Zeichen zu setzen: Das massive Werben darum, dass junge Menschen mit Migrationshintergrund auch LehrerInnen werden sollen, gehört sicher mit dazu. Genügend SchülerInnen mit Migrationshintergrund dafür zu gewinnen, diesen Weg zu gehen, ist allerdings kein einfaches Unterfangen, zumal bereits die Ausgangsgruppe überproportional klein ist, bei der geworben werden kann. Ein Blick auf offizielle Statistiken über den Bildungserfolg zeigt: Junge Menschen mit Migrationshintergrund sind an Gymnasien und unter den jungen Erwachsenen mit Hochschulreife stark unterrepräsentiert. Zweifellos ist unser Bildungssys-
tem nicht hinreichend in der Lage, mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und Lebenslagen so umzugehen, dass am Ende Chancengleichheit realisiert wird. LehrerInnen mit Migrationshintergrund könnten hier zu einer Veränderung beitragen: Ergebnisse einer neueren Studie aus Berlin zeigen, dass sie als „change agents“ in der Schule fungieren können, als „kritische Beobachter und Ankläger von Rassismus (…) und als Akteure interkultureller Schulentwicklung“.

* Prof. Dr. Rudolf Leiprecht, der sich u.a. mit Rassismusprävention beschäftigt und zu den Differenzlinien von Ethnien, Nation, Kultur und Geschlecht forscht, ist Direktor des Instituts für Pädagogik. Er arbeitet zudem im Interdisziplinären Zentrum für Bildung und Kommunikation in Migrationsprozessen (IBKM) mit, das er von 2005 bis 2009 leitete. In dem Zentrum forschen Bildungs-, Erziehungs-, Sprach- und SozialwissenschafterInnen zu Fragen der Einwanderungsgesellschaft, der Interkulturalität, der Migration und der Globalisierung.



(Stand: 19.01.2024)  | 
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