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HERBST 2011
KOLLMEIER: Im Labor: ja, aber bei kommerziellen Hörgeräten:
noch nicht ganz. Daran arbeiten wir. Der nächste Schritt des
Hörgeräts: Es muss sich anpassen an die entsprechende Situ-
ation. Es muss die gewünschte Information herausfiltern kön-
nen. Und zwar so„intelligent“, dass es das Gewünschte nicht
unterdrückt oder wie bei einemschlechten Fernsehprogramm
zwischen den Kanälen dauernd hin- und herschaltet – und im
Endeffekt ist immer Werbung.
EINBLICKE:Wie kann ein Hörgerät in Zukunft denn „erkennen“,
was ich hören möchte?
KOLLMEIER: Das fängt mit einer Gestensteuerung an, also
einemZeigen,wo ichhinhörenmöchte oder einemHingucken
– daran arbeiten wir im Labor. Natürlich sind wir nicht soweit,
dass wir Gedanken lesen können oder mit Gedanken einGerät
steuern können.Schönwäre es! Der Idealfall wäre: Ichwill jetzt
aus der Menschenmenge, die mich umgibt, Person x hören,
auf die ich mich konzentriere. Und das Hörgerät soll dann
dazu in der Lage sein – ohne groß mit einer Fernbedienung
herumspielen zu müssen.
EINBLICKE: Gibt es schon die entsprechenden Techniken?
KOLLMEIER: In Ansätzen. Wir nennen es Brain-Computer-
Interfaces. Mit EEG-Elektroden können wir ein paar wenige
Informationen aus dem Gehirn herauslesen. Es gibt zum
Beispiel Brainball, wo man im Gehirn Fußballspiele steu-
ern kann, es gibt Feedbacksysteme, bei denen man durch
Konzentration oder Gedanken etwas ansteuern kann –
Techniken, die wir für Hörgeräte nutzbar machen möchten.
Allerdings ist das noch Zukunftsmusik. Derzeit nehmen
wir mit einem Maschinen-Learning-Ansatz eine Musterer-
kennung vor und fragen: Welches der erkannten Objekte
will der Patient hören? Da gibt es schon Ansätze in sehr
vereinfachter Form. Oder wir experimentieren mit einem
Gemisch von Tönen und Geräuschen, die im Zeitbereich
unterschiedlich getaktet sind – und können aus dem Rhyth-
mus der Hirnströme herausfinden, auf welche Töne sich der
Patient konzentriert. Alles wie gesagt noch sehr vereinfacht,
aber ausbaubar für die Realität.
EINBLICKE: Spielen solche Ansätze auch in demExzellenzclus-
terantrag„Hearing4all“ eine Rolle?
KOLLMEIER: Ja, vor allem geht es hier um Grundlagenfor-
schung: Dass man beispielsweise überhaupt in der Lage ist,
solche akustischen Mensch-Maschine-Interfaces zu unter-
stützen und clevere Signalverarbeitungsverfahren zu ent-
decken, bei denen die akustische Umwelt und das mensch-
liche Hörvermögen als Modell gleich eingebaut sind. Dazu
braucht man Forschung und noch mal Forschung: Wir wol-
len die grundlegenden Probleme lösen, die einemHören für
alle imWeg stehen. Dabei gibt es drei Forschungsbereiche:
Erstens wol len wir
die Diagnostik von
Hörstörungen voran-
bringen. Unser The-
oriegebäude muss
besser werden und wir wollen herausfinden: Wie genau
„funktionieren“ die auftretenden Störungen, wie kann
man sie möglichst quantitativ und mit möglichst wenig
Aufwand beim individuellen Patienten erfassen? Zweitens
versuchen wir, Hörsysteme zu verbessern, vor allem durch
das Zusammenbringen von„intelligenten“ Hörgeräten und
neuartigen Hör-Implantaten – da spielen unsere Kollegen
von der Medizinischen Hochschule in Hannover eine wich-
tige Rolle. Und drittens wollen wir eine Hörunterstützung
schaffen, um Personen möglichst lange im sozialen Leben
und auch im Arbeitsleben zu halten. Dieser Bereich heißt
„Assistive Listening Devices“. Auch das ist ein perspektivisch
ungemein wichtiger Bereich: Immerhin hat bei den über
65-Jährigen jeder zweite heute einen behandlungsbedürf-
tigen Hörverlust.
EINBLICKE: Wie bitte?
KOLLMEIER: Das grundsätzliche Problem heutzutage ist,
dass viel zu spät mit einer Hörgeräteversorgung angefan-
gen wird.Männer sind da im Schnitt zehn Jahre später dran
als Frauen. Sie sind weniger gesundheitsbewusst. Dann ist
es oft zu spät, und sie lernen nicht mehr, sich auf die vom
„Wir wollen die grundlegenden
Probleme lösen, die einem Hören
für alle imWeg stehen.“
Birger Kollmeier: „Das Hörgerät muss die gewünschte Information
herausfiltern können.“
Birger Kollmeier: "Hearing devices must be able to pick out the
desired information."