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FRÜHJAHR 2012
EINBLICKE: Herr Kreuzer, spielt das Utopische in unserer Ge-
genwart noch eine Rolle?
KREUZER: Aber ja – wenn es uns gelingt, die alltäglichen Ver-
drängungsleistungen zu verringern. Davon gibt es natürlich
nicht wenige. Das hat auch mit der technischen Entwicklung
zu tun. Seit der Digitalisierung sind Informationswege von
physischen Faktoren abgekoppelt. Das ist so – dagegen
anzureden wäre bloße Maschinenstürmerei. Nehmen Sie die
Smartphones. Es gibt für den Informationsfluss kein Außen
mehr. Der Benutzer ist Teil des Informationsflusses geworden.
Jederzeitige Abrufbarkeit – Fungibilität –wird allgegenwärtig.
EINBLICKE: Die neuen elektronischen Medien als Utopie-
Blocker?
KREUZER:Nein, so ist es natürlich nicht.Undwenn jemand ein
Smartphone bewusst einsetzt, erleichtert das vieles.Daran ist
nichts Schlechtes. Wir müssen uns aber anschauen, was das
jederzeitige Zurverfügungstehen, die permanente Erreichbar-
keit durch diese gewiss innovative Technologie bedeuten. Es
ist, als komme eine Entwicklung zum Abschluss, die mit der
Manufaktur-Periode ihren Ausgang nahm. „Der ideale Arbeiter
in einem Webstuhl“, hat Diderot einmal spitz formuliert, „ist
der Mensch, der bis zu den Verdauungsvorgängen mit dem
Webstuhl eine Einheit geworden ist.“
EINBLICKE: Inwiefern?
KREUZER: Man wird zu einem Reiz-Relais. Es ist ein Null-Eins-
Reagieren – das nennt Walter Benjamin in einem Text den re-
flektorischen Charakter, der nicht mehr zur Erfahrungsbildung
kommt und damit auch nicht mehr zu Geschichten, die man
erzählen kann. Es gibt nur noch fortwährendes Reagieren-
Müssen – und keine Reflexion oder gar griechische Phronesis,
Besinnung also. Die wird verdrängt durch bloße Reflexe auf
Bildreize. Eine Allpräsenz von Bildern, von Icons, die letztlich
Strahl in einer Stadt aus Sand
Jeder hat sie angesammelt: Utopien und Glückserfahrungen, ob in der Kindheit oder als Erwachsener. Doch welche Rolle
spielen Utopien in unserem Alltag heute – werden wir uns ihrer noch bewusst? Und was ist ihr philosophischer Sinn? Der
Oldenburger Bloch-Experte Johann Kreuzer über ein Konzept, das in der Wirklichkeit verankert ist – und zugleich weit
über sie hinausgeht.
Spielen im Sandkasten: „So etwas wie Sinnevidenz.“
Playing in the sandpit: "Something like a proof of
meaning."
IM GESPRÄCH