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HERBST 2012
Studien der Governance- und Policyforschung bleiben die
schwindenden Teilhabechancen der Bürger weitgehend un-
terbelichtet – die staatliche Intervention bei den Aktionstagen
von Blockupy ist nur ein Beispiel dafür.
Dabei protestieren viele Menschen nicht nur gegen die
Auswirkungen der Finanzkrise, gegen Sparprogramme und
Rettungsschirme. Sie fordern auch, demokratische Entschei-
dungswege neu zu justieren. Denn Staatlichkeit hat sich für sie
spürbar verändert: Transnationales Regieren in Expertengre-
mien jenseits von Parlamenten
und Öffentlichkeit stellt die klas-
sischen Wege demokratischer
Willensbildung in Frage. Dem
stehen auf der Ebene der Subjekte neue Formen des Regiert-
werdens gegenüber. Junge Menschen werden weniger als
emanzipatorische Akteure adressiert, denn als „Unternehmer
ihrer selbst“ (Ulrich Bröckling). Sie sollen selbstverantwortlich
ihre berufliche Mobilität und soziale Sicherung regulieren.
Gleichzeitig zeigen Ergebnisse der politischen Kulturforschung
etwa von Brigitte Geißel, dass die Voraussetzungen politischer
Teilhabe für viele Bürger sehr begrenzt sind – die Partizipati-
onschancen sind zunehmend ungleich verteilt.
Engagementpolitik statt kritischer Demokratiebildung: Wenn
Bildungsforscher die Legitimationskrise überhaupt themati-
sieren, dann indem sie häufig politische Partizipation auf so-
ziales Engagement reduzieren. Geradezu euphorisch werden
Projekte des Service- und Demokratielernens beworben und
öffentlich gefördert. Doch die gesellschaftlichen Konfliktlinien
und Legitimationsdefizite werden in vielen dieser Projekte
nicht thematisiert: Unberücksichtigt bleiben die Mechanis-
men sozialer Schließung und die Gründe für den (Selbst-)
Ausschluss von immer mehr Menschen aus dem Feld der
politisch anerkannten Akteure und Entscheidungsprozesse.
Vielmehr gelten privates Engagement, Selbstverantwortung
und Unternehmergeist als neue Bildungsziele. Sie sollen nicht
zuletzt den Rückzug des Wohlfahrtstaates kompensieren.
Nicht wenige Sozial- und Bildungsforscher suchen die Defizite
bei den Bürgern selbst. Sie seien der „eigentliche Schwach-
punkt unserer Demokratie“, meint etwa der Dresdner Poli-
tologe Werner Patzelt. Die Bürger verstünden das politische
System nicht und wären immer weniger bereit, in Parteien
und Verbänden mitzuwirken. Sie würden für Politik nicht
annähernd die Mühe und Zeit investieren wie für den Kauf
eines neuen Autos oder eines iPhones.
Eine ähnliche Diagnose stellte bereits Joseph Schumpeter mit
der Empfehlung, man möge politische Entscheidungen kon-
sequenterweise Experten und Fachausschüssen überlassen.
Heute ziehen Wissenschaftler zur Begründung der Exper-
tendemokratie empirische Studien heran, die belegen sollen,
dass die meisten Bürger nicht über die nötige „political liter-
acy“, über basale Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen. Sie
hätten zu hohe Erwartungen, betrachteten den Staat lediglich
als Dienstleister und würden daher zwangsläufig von par-
lamentarischen Prozessen enttäuscht. Protestbewegungen
sind nach dieser Logik Ausdruck von Verantwortungsflucht
und Rückzug in Spaß-, Konsum- und Freizeitkulturen, bei
denen eben auch der Protest sich zum Event wandelt.
Allein bei den Bürgern die Ursache für eine Krise der Demokra-
tie zu suchen, ist abwegig – bedenkt man nur die jahrelangen
Auseinandersetzungen um die EU-Dienstleistungsrichtlinie,
Staatlichkeit hat sich für
viele spürbar verändert.
Junge Menschen suchen wirksame Wege politischer
Einflussnahme“. Momentaufnahme von der Demonstration
Freiheit statt Angst“ im September 2011 in Berlin.
"
Young people are seeking effective ways to influence politics".
A snapshot of the "Freedom, not Fear" demonstration in
September in Berlin.