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um Stuttgart 21 oder die Schulreform in Hamburg. Es sind
nicht nur Occupy-Aktivisten und linke Splittergruppen,
die demokratische Defizite einklagen. Das Bundesverfas-
sungsgericht verhandelte im Herbst 2012 Klagen gegen den
Euro-Rettungsschirm und die Fiskalunion, denen sich über
37.000
Bürger und Poli-
tikerinnen von der CSU,
über die SPD bis zur
Linken angeschlossen
hatten. Dabei ging es
um das Demokratiedefizit bei europapolitischen Entschei-
dungen und das Haushaltsrecht des Bundestags – ein Kern-
element demokratischer Souveränität also.
Politische Bildung und Bildungsforschung muss die Legiti-
mationsdefizite und aktuellen Krisenphänomene proble-
matisieren und ihre Folgen für politische Sozialisations- und
Lernprozesse analysieren. Die Lerngelegenheit der Krise
besteht in der Analyse ihrer sozio-ökonomischen Ursachen,
in der Kritik defizitärer Legitimationswege, dem Aufzeigen
politischer Alternativen und der Erprobung neuer Verfahren
der Partizipation wie das von der Piratenpartei eingeführte
Verfahren des „liquid feedback“. Dabei kann das Stimmrecht
durch die Parteibasis fallbezogen wahrgenommen werden.
Abhängig von der jeweiligen Fragestellung stimmen die
Mitglieder selbst ab oder können ihre Stimme auf ausge-
wählte Delegierte – aber eben nicht für alle Entscheidungen
übertragen.
Wichtig ist, dass Politische Bildung den Abbau demokratischer
Teilhabechancen und die Formen von Entdemokratisierung
thematisiert – wie zum Beispiel die Schwächung der Parla-
mente durch Expertengremien, Europäisierung, Lobbyismus
und kommerzielle Politikberatung. Politik kann nicht auf die
effiziente Regelung öffentlicher Probleme durch administra-
tive Verfahren reduziert werden.
Erst als Gegenbewegung dazu werden die Empörung,
die Bürgerproteste und der große Erfolg der Piratenpartei
verständlich. Junge Menschen suchen wirksame Wege
politischer Einflussnahme. Viele Bürger zweifeln jedoch, ob
ihnen überhaupt eine aktive Rolle außer der des Leistungs-
trägers oder der solventen Konsumentin eingeräumt wird. Im
Zentrum politischer Bildungsforschung und Bildungspraxis
müssen daher gerade die verhindertenMöglichkeiten demo-
kratischer Mitbestimmung durch Mechanismen der Selbst-
und Fremdausschließung stehen. Stuttgart 21, Blockupy oder
Aktionen gegen das ACTA-Abkommen sind Beispiele für die
Mobilisierung von Bürgerprotesten.
Der enorme Erfolg der Piratenpartei wiederum zeigt, dass
auch in parlamentarischen Strukturen neue Wege basisde-
mokratischer Beteiligung möglich sind, die bereits vielfältig
von den etablierten Parteien adoptiert werden. Politik ist
ein öffentlicher Streit um Konflikte
und Alternativen. Sie braucht neue
Räume und Zugänge zu diesen
Arenen sowie genügend Zeit, die
Stimmen der Bürger ernst zu nehmen. Reduzieren sich die
Sozialwissenschaften hingegen auf Fragen öffentlicher Ver-
waltung und ökonomisch effizienter Steuerung, blenden sie
den Rückzug der Bürgerinnen aus der Politik weitgehend aus.
Eine so verstandene entpolitisierte Politikwissenschaft spiegelt
die Entpolitisierung der Bürger, statt diese zu reflektieren. Sie
versagt gegenüber den eigenen Ansprüchen des Faches,
tatsächlich eine Politische Wissenschaft zu sein.
Die Lerngelegenheit der Krise
besteht in der Analyse ihrer
sozio-ökonomischen Ursachen.
Prof. Dr. Andreas Eis: „Politische Bildung muss die aktuellen
Krisenphänomene problematisieren“.
Prof. Dr. Andreas Eis: "Political education must problematize
the current crisis phenomenon".
Politik braucht neue
Räume und Zugänge.