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Hochschulzeitung UNI-INFO

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< Inhalt 12/1995

Aus Wissenschaft und Forschung

Was wäre gewesen, wenn Beethoven eine begabte Schwester gehabt hätte?

Freia Hoffmann leitet DFG-Projekt zur Edition der Komponistin Louise Farranc

Was wäre geschehen, so könnten wir in Abwandlung eines berühmten Textes von Virginia Woolf fragen, wenn Beethoven eine "wunderbar begabte Schwester gehabt hätte", "ebenso abenteuerlustig, ebenso phantasievoll, ebenso begierig die Welt zu sehen wie er ..."? Wie Virginia Woolf es mit der fiktiven Julia Shakespeare durchspielt, so können wir die Hindernisse abschreiten, die sich einer begabten Musikerin auf dem Weg zur Komponistin in früheren Jahrhunderten entgegenstellten.

Eins ist sicher: Auch wenn sie auf diesem Weg nicht resigniert hätte, wenn sie sich das notwendige Handwerkszeug angeeignet hätte, um ihre musikalische Phantasie in Sonaten, Quartette, Sinfonien und Opern umzusetzen - wir würden heute nur wenig oder nichts davon kennen. Von den über 400 Werken verschiedenster Gattungen, die beispielsweise Fanny Mendelssohn komponierte, ist nur ein kleiner Teil gedruckt zugänglich. Ähnlich verhält es sich mit dem Oeuvre von Ethel Smith und Louise Adolpha Le Beau, zwei anderen überaus produktiven Komponistinnen des 19. Jahrhunderts. Noch nicht einmal Clara Wieck-Schumann ist bisher in den Genuß wissenschaftlich fundierter Notenausgaben gekommen; von einer Gesamtausgabe ihres kompositorischen Werks, das immerhin als Anhang zur neuen Robert-Schumann-Ausgabe zur Diskussion stand, hat der Bärenreiter-Verlag schließlich Abstand genommen. Das macht es nicht nur schwierig, Kompositionen von Frauen wieder in das Musikleben und den musikgeschichtlichen "Kanon" zu integrieren, sondern auch die analytische Aufarbeitung ist wesentlich mühsamer - im Gegensatz übrigens zu den zahlreichen Kleinmeistern, die inzwischen mit opulenten Gesamtausgaben bedacht worden sind.

Einen ersten Schritt zur Korrektur hat nun die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) unternommen, indem sie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg ein auf zwei Jahre angelegtes Projekt finanziert, das eine Edition von Louise Farrenc (1804-1875) vorbereitet. Im Fall dieser französischen Komponistin ist das Mißverhältnis besonders krass: Dank der Aktivitäten einiger Wissenschaftlerinnen ist sie Interessierten, auch MusikerInnen inzwischen durchaus ein Begriff, vor allem ihre Kammermusikwerke werden in Konzert und Rundfunk häufig gespielt und sind teilweise auf CD zugänglich. Gedruckt im Handel erhältlich ist von ihr aber nur ein einziges Klaviertrio.

Dabei war Louise Farrenc, Komposi-tionschülerin von Anton Reicha und 30 Jahre lang Klavierprofessorin am Pariser Konservatorium, zu Lebzeiten in Frankreich durchaus eine namhafte Musikerin. Ihre Werke stehen in der Nachfolge der Wiener Klassik und führen sie, ähnlich wie es in Deutschland ihr Zeitgenosse Felix Mendelssohn getan hat, in einem reizvollen Spannungsverhältnis zwischen tradierter Form und satztechnischen Neuerungen weiter. Ihre drei Sinfonien und ihre Kammermusik, darunter so originelle Besetzungen wie ein Nonett für Bläser und Streicher und ein Bläsersextett mit Klavier, entstanden zwischen 1839 und 1857.

Daß eine Gesamtausgabe der Farrenc'schen Orchester- und Kammermusik nun an der Oldenburger Universität angesiedelt wird, ist den jahrelangen Vorarbeiten der Projektleiterin Prof. Dr. Freia Hoffmann zu verdanken. Durch editorische Bearbeitung der Partitur und Herstellung handschriftlicher Stimmen hatte sie 1982 die deutsche Erstaufführung der 3. Sinfonie von Louise Farrenc in Bremen ermöglicht. Seitdem wurde die Komposition unter großer Presse-Resonanz von mehreren Orchestern gespielt, unter anderem auch vom Orchester des Oldenburgischen Staatstheaters. Kammermusikwerke kamen durch Hoffmanns Vermittlung ins Repertoire verschiedener Ensembles, so daß heute wenigstens über Rundfunkaufnahmen und einige CD's ein Eindruck von Louise Farrencs musikgeschichtlichem Rang zu gewinnen ist.

Tucholsky - ein jüdischer Antisemit?

Vorträge über ambivalentes Verhältnis des Schriftstellers zum Judentum

1914 aus dem Judentum ausgetreten, blieb Kurt Tucholsky (1890 - 1935), dessen Todestag sich am 21. Dezember zum 60. Mal jährt, zeitlebens dem Judentum verhaftet. Von den Konservativen wurde er ausdrücklich als Jude diffamiert und angegriffen, andererseits machten ihn die assimilierten Juden für den erstarkenden Antisemitismus der Rechten verantwortlich. Für Tucholsky verlief jedoch die Grenze nicht entlang des Taufscheins, sondern entlang der Klassengegensätze. Er selbst bekannte: ". . . meine Arbeit gilt den Wehrlosen, unbekümmert darum, was die Juden oder sonst eine Rasse dazu sagen."

Tucholskys - teilweise auch brillant formulierten - Schmähungen und seine harte Kritik an den assimilierten Juden waren nach dem Krieg Anlaß für den Vorwurf, er sei jüdischer Antisemit und von jüdischem Selbsthaß zerfressen gewesen. Dies war für die Kurt Tucholsky-Gesellschaft (KTG) Anlaß zu einer kritischen Auseinandersetzung im Rahmen ihrer Jahrestagung vom 19. bis 22. Oktober in Berlin. Mitveranstalter waren die Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und das Moses Mendelssohn Zentrum in Potsdam.

Gleich zu Beginn wurden die Brisanz des Themas und Lücken in der bisherigen Forschung deutlich: Ingrid Belke vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach vertrat mit einer Fülle von Zitaten die These, daß es in Tucholskys Schriften vor 1933 viele Anzeichen von latentem Antisemitismus gäbe. Moderator Gerhard Kraiker meldete erhebliche Bedenken an, und auch Wolfgang Benz, der Leiter des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung, relativierte in seinem Beitrag diese These: Ließen die Briefe Tucholskys nach 1933 auch nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig, sei sein "denunziatorisches Wüten" doch eher Ausdruck der Empfindung der eigenen Niederlage, "und die versuchte er durch Distanzierung zu mildern".

Die Vorträge lösten bei den 140 TeilnehmerInnen aus ganz Europa und Rußland zum Teil sehr emotionale Diskussionen aus. So deutlich hatte man vorher die Zusammenhänge nicht gesehen, so detailliert hatte man bisher Tucholskys ambivalentes Verhältnis zum Judentum noch nicht betrachtet. Julius H. Schoeps, Leiter des Moses Mendelssohn Zentrums in Potsdam und des Wiener Jüdischen Museums, und Michael Daxner stellten Tucholsky in einen historischen Kontext. Prangerte Schoeps die "Flucht in den Haß" an, indem er pointiert den Weg vom Antijudaismus zum modernen Antisemitismus aufzeigte und dabei die Rolle der Kirchen deutlich machte, zeigte Michael Daxners "Theorie der Inszenierung der Juden in Deutschland", wie schwer ein "normales" Zusammenleben nach der Shoa ist. "Die Juden inszenieren sich selbst und werden inszeniert." Daxner zeigte in seinem mitreißenden Vortrag, daß auch Philosemitismus eine Art von Antisemitismus ist, denn durch die Inszenierung des Juden als per se guten Menschen bekommt er erneut eine Ausnahmestelle zugewiesen und wird so wiederum ausgegrenzt.

Auf der Podiumsdiskussion über "deutsch-jüdische Symbiose oder doch nur jüdische Akkulturation" an der neben Michael Daxner, Julius H. Schoeps und Ingrid Belke auch Andreas Nachama und Friedrich Schorlemmer für den erkrankten Ignatz Bubis teilnahmen (Moderator war Wolfgang Körner vom Nieders. Ministerium für Wissenschaft und Kultur), brachen die Gegensätze offen aus. Meinte Michael Daxner, daß die Juden heute eigentlich privilegiert seien, sie könnten jederzeit das Land in Richtung Israel verlassen, verstand Andreas Nachama dies als Ermutigung an die Juden, ihre Heimat Deutschland zu verlassen. Dies führte zu einem heftigen Streit, der bis zum Schluß nicht aufzulösen war und durch den deutlich wurde, wie emotional auch innerjüdisch die Diskussion verlaufen kann.

Höhepunkt war die Schlußveranstaltung mit einer Darbietung im Deutschen Theater: Volker Kühn hatte aus SS-Akten Texte und Chansons der Kleinkunstbühnen des Jüdischen Kulturbundes von 1933-1941 rekonstruiert und zu einer eindringlichen Collage verarbeitet und inszeniert. Die ruhige, fast distanzierte Vortragsweise der Schauspieler ließ keinen unbewegt. "Einen Augenblick lang bekamen die Opfer des Massenmordes stellvertretend für alle Namen, Gesichter und Vergangenheit" faßte Ian King aus London später zusammen.

Eine Dokumentation der Tagung erscheint im Februar im BIS-Verlag.

Michael Hepp, Vorsitzender der KTG und Mitarbeiter an der Tucholsky-Gesamtausgabe (Fachbereich 3).

Drei Jahre Wüste

Ein Erfahrungsbericht aus der Planungspraxis in Saudi-Arabien / Von Jens Windelberg

Ich sitze im klimatisierten Büro des Planungsministeriums in Riad. Der Computer ist mit neuester englisch/arabischsprachiger Software vollgestopft. Es ist Mai: Draußen noch moderate 48°C (Schatten), Luftfeuchtigkeit 20 %. Die nächste Fachbesprechung erst in einer Stunde. Der Teaboy bringt frischen Tee und die erbetenen Kopien aus den Fachbüchern. Wüste?

Wer nach getaner Arbeit das Ministerium verläßt, spürt etwas davon: Der Weg zum schattig geparkten Auto gerät zur staubigen Wanderung zwischen glühenden Kohlen und sengender Sonne. Die Trockenheit läßt aber kein unangenehmes Empfinden aufkommen. Im Auto dann eine erdrückende Hitzewelle von über 70 Grad. Hier erfolgt ein heftiger, unvermeidbarer Schweißausbruch. Die Fahrt auf mehrspurigen Palmenalleen nach Hause ermöglicht wieder die AC-Nutzung (Air Conditioning). Aber die Abkühlung währt nicht lange: Der Weg zur Wohnung fehlt noch. Auf dieser Strecke erfolgt der vollständige Trocknungsprozess der schweißnassen Kleidung. In der Wohnung wieder AC und der spontane Ausgleich des Feuchtigkeitsverlustes. Später von dort zum Pool sind es angenehme 200 Meter, nun hinein ins 30 Grad warme Wasser. Wüste?

Wer freiwillig den Beruf eines Hochschullehrers mit dem eines Planungsexperten in Saudi-Arabien vertauscht, den erwarten nicht nur die Gegensätze von Wüste und Zivilisation: Tradition und Fortschritt, Planung und Spontaneität, Religion und Liberalität ... alles scheint hier in einer seltsamen Mischung zugleich vorhanden. Und eines wird schnell begriffen: Europäisch/amerikanische oder gar 'rein' deutsche Kriterien und Maßstäbe sind kaum geeignet, das zu beurteilen, was innerhalb eines dreijährigen Aufenthaltes an Vielfalt erlebbar ist.

Da Saudi-Arabien dem 'normalen' Touristen verschlossen ist, dieses Land aber in der Golfregion - nicht nur wegen seines schier unendlichen Ressourcenreichtums - eine bedeutende Rolle spielt und in der muslimischen Welt vielleicht sogar eine führende Position inne hat, kann es für den Leser/die Leserin von Uni-info vielleicht interessant sein, an den sehr persönlichen Erfahrungen eines Universitätsmitgliedes teilzuhaben. Sie sind ohne Anspruch auf Vollständigkeit mosaikartig hier wiedergegeben.

Die "Daten-Wüste" läßt viele Experten kapitulieren

Der Versuch, die Landessprache zu lernen, wurde von mir bald abgebrochen: Die intellektuelle Oberschicht - und mit der hatte ich es ja fachlich ausschließlich zu tun - spricht perfekt Englisch. Außerdem gibt es Übersetzungsbüros in jedem Stockwerk. Übersetzungen auch durch unsere female section, natürlich räumlich getrennt von uns, im eigenen Gebäude. Außerhalb des Ministeriums begegnet man dem Heer dienstbarer Geister aus fernen Ländern, immerhin fünf Millionen im ganzen Königreich, aus 23 verschiedenen - überwiegend muslimisch orientierten - Ländern. Sie sprechen alle recht gut Englisch. Private Kontakte zu saudischen Familien bleiben rar. Am Ende des ersten Arbeitsmonats eine erste Anpassung an eine neue Gelassenheit: Warum nicht später ... vielleicht ... Inschallah.

In meinem universitären Fachgebiet der Regionalen Strukturpolitik, Regional- und Infrastrukturplanung hat man - zumindest im Rahmen der EU - nie wirklich mit einer zu geringen Datenfülle zu kämpfen. Es ist heute eher umgekehrt: Die Datenautobahn, Internet, Bitnet ... Und: Fehlendes wird empirisch vor Ort erhoben. In Entwicklungsländern ist dieser Tatbestand für den Auslandsexperten anders: Verläßliche Basisdaten gibt es kaum, regionalisierte Daten überhaupt nicht, umfängliche Eigenerhebungen sind nur begrenzt durchführbar: Angesichts der Fülle der zu bewältigenden Gutachten besteht die 'Kunst' des Experten häufig darin, mit wenigen Leitindikatoren in kurzer Zeit zu plausiblen Ergebnissen zu gelangen. Letztere werden von anderen Experten (z.T. aus anderen Institutionen) immer gegengecheckt. In Saudi-Arabien auf hohem Niveau.

Ohne eine sehr breite und auch praxisorientierte Gutachtererfahrung auf den relevanten Fachgebieten geht man in Saudi-Arabien an der Kargheit der 'Daten-Wüste' zugrunde. Die ersten sechs Monate ermöglichen deshalb für jeden Experten auch einen Rückzug in die gewohnte universitäre oder institutionelle Umwelt nach Deutschland ohne Gesichtsverlust. Bis zu einem Viertel der hochqualifizierten deutschen Experten wählen diesen Weg aus der (Informations-) Klemme und kehren dem ungewohnten Arbeits- und Lebensumfeld schnell wieder den Rücken.

Der ausländische Experte in Saudi Arabien ist ausschließlich auf sich selbst angewiesen. Teams zu bilden bleibt nicht die Zeit, Sekretärinnen, wiss. Hilfskräfte oder Fachkollegen fehlen. Die Analysen, Gutachten und Stellungnahmen, vom Minister direkt oder seinem Büro angefragt ('Assignments'), müssen von A bis Z alleine angefertigt werden, inklusive druckfertiges Layout. 'Student an einer permanenten Doktorarbeit', schießt es dem Universitätslehrer durch den Kopf. Eine gute Erfahrung nach langen Jahren kooperativer Teamforschung und mitarbeitegestützter Gutachtertätigkeit zu Hause.

Das Saudische Planungssystem beruht auf den Eckpfeilern 5-Jahres-Pläne, Projekt/Budget-Harmonisierung, Vollzugskontrolle, Revision ('PPBE-System') und ist auf alle Infrastrukturbereiche und -projekte anzuwenden. Man stelle sich vor, in Deutschland hätte man nach der Vereinigung ein Planungsministerium gegründet, das alle staatlichen Aktivitäten der Infrastrukturplanung stimuliert, koordiniert, priorisiert und evaluiert.

Die Frage ist zu beantworten, ob komplexe Planungssysteme - das saudische hat sich in der stürmischen Entwicklungsphase 1970-1990 im Prinzip als perfekt und erfolgreich erwiesen - Phasen des wirtschaftlichen Stillstandes, des eher qualitativen Wachstums überstehen. Eine der Fragen, die alle augenblicklichen Assignments des Planungsministeriums hier berührt.

Das System der Clans

Saudi-Arabien ist eigentlich das Land für soziologische Familienforschung: Die Bindung der saudischen Individuen an die Gemeinschaft, sei es an den Tribe oder die Großfamilie, ist noch erstaunlich stark ausgebildet und lebendig: Da existieren eigene kleine Versicherungsunternehmen auf Großfamilien-Basis oder informeller, der Onkel hilft, wenn dem Neffen nach dem Autounfall das Geld ausgeht, die Krankenpflege ist in house organisiert, die 'Pflegeversicherung' ist die Großfamilie. Fast alle sozialen Institutionen, auf die wir zur Bewältigung unseres täglichen Lebens angewiesen sein könnten, gibt es nicht oder nur in kleiner Dimension. Entsprechend schwierig bzw. unmöglich ist es, in dieses soziale Netzwerk, das aus einer Vielzahl von Verpflichtungen, Aufgaben und gegenseitigen Besuchen besteht, als Fremder einzudringen. Die Großfamilie oder der Tribe selbst ist die kleine vielfältige Welt, die das Leben ausfüllt, die sich - auch im Bereich Information - selbst genügt. Wozu noch neue Freunde aus der Fremde?

Das Verblüffende immer wieder: Das System funktioniert. Häuser werden so gebaut, daß die zahlreichen Nachkommen auch mit ihren Familien Platz finden könnten, Grundstücke nach dem Gesichtspunkt der 'Nähe' zu anderen Clan-Mitgliedern gewählt (auch wenn sie viel teurer sind), Ferienreisen - mit Ausnahme ins Ausland - dienen ausschließlich Verwandtenbesuchen, übrigens eine auch ganz preiswerte Lösung des Urlaubs. Carsharing? Innerhalb der Großfamilie selbstverständlich. Die Mutter zum Arzt fahren? Es gibt immer einen Jugendlichen, der begeistert als Fahrer einspringt.

Viele Infrastrukturengpässe, die ich vorsorglich ermittelte und als Ursache von möglichen Konflikten ansah, werden (noch) hingenommen und 'intern' überbrückt. Und das auch bei Familien, die nicht zu den upper ten percent gehören. Trotzdem: Ohne den noch vorhandenen Grundstock an relativ gleichmäßig verteiltem 'privaten Reichtum' in Saudi-Arabien würde das System nicht diese ausgleichende Funktion wahrnehmen können. Zum Aspekt 'Reichtum' noch eine kleine erklärende Anmerkung: Saudi Arabien besitzt eine reiche Oberschicht mit Einkommen, die z.T. unvorstellbar hoch sind und angesichts niedrigster Lohnkosten noch mal um ein Vielfaches mehr 'wert' sind als in einem westlichen Land. Die Bevölkerungsexplosion - von zwei Millionen arabischen Einwohnern 1932 zu über zwölf Millionen heute - hat aber eine neue Mittelschicht hervorgebracht, die im Hinblick auf das Einkommen mit europäischen Verhältnissen vergleichbar ist. Daneben gibt es auch seit jüngerer Zeit das Phänomen der low income groups, jedoch ist keine 'Armut' bekannt.

Die Welten der Männer, der Frauen und der Familien

Es ist außerordentlich schwierig, die kulturelle Situation eines Landes zu erfassen, das in so einer engen Harmonie von Tradition und Religion lebt. Diese Harmonie ist keineswegs aufgezwungen, wie viele westliche Journalisten vorschnell urteilen, sondern eher logisch, wenn man bedenkt, daß Saudi-Arabiens 'westliche' Entwicklung gerade vor 25 Jahren begann. Vor 1970 sind im wesentlichen einfache Infrastrukturprojekte realisiert worden, die die Lebensgewohnheiten der Bewohner noch nicht herausforderten. Erst Flughäfen, TV-Stationen, Satelliten-Fernsehen, Einkaufszentren, Industriezonen, Urbanisierung und Telefon lassen (westlichen) Zweifel am Fortbestand tradierter Verhaltensweisen aufkommen. 'Westlicher' Technologieimport führt aber augenblicklich, im Gegenteil, zu einer ernsthaften Rückbesinnung auf ursprüngliche Werte und partiell zu einem für uns häufig schwer verständlichen saudischen 'Fundamentalismus'. Letzterer wird wiederum getragen durch die wahabitisch ausgerichteten religiösen Führer in der Zentralregion.

Besonders kritisch wird - ebenfalls von westlicher Seite - das Bild der saudischen Frau gezeichnet. Doch hier zeigt die Realität, daß selbst hochintelligente und weltgewandte Frauen, ob als Ärztinnen im Krankenhaus oder als Managerin eines Bankenkonsortiums, die traditionelle, familienorientierte Werthaltung der westlichen eindeutig vorziehen. 'Wofür arbeiten, wenn nicht für die Familie?' Die Individualisierung, die nicht 'wertdeterminierte' Gesellschaft wird als brutal und dem Lande hier unangemessen angesehen. Und trotz mancher Kritik an Einzelheiten des Systems: Bei den Grundsätzen treffen sich die Frauen wieder mit der Meinung der Männer, die ja mit der bisherigen Rollenteilung hervorragend leben können und dieselbe - natürlich aus ganz anderen, naheliegenden Gründen - vehement verteidigen.

Die für heutige westliche Kulturen ungewohnt starke Rollenteilung ist es letztendlich auch, die das Teilnehmen an Landeskultur erschwert: Bei allen saudischen Veranstaltungen gibt es Männer-Tage, wenige Frauen-Tage und noch weniger Familien-Tage. So wird die Rollenteilung unweigerlich auch westlichen Experten und ihren Familien aufgezwungen, eine Erfahrung, auf die ich für meine Person voll verzichten kann. Und damit komme ich zu einem nicht minder wichtigen Punkt der Auslandserfahrung, den ich nicht mehr missen möchte:

Freizeiterfahrung

Es ist unvorstellbar, welche Vielfalt an Landschaftstypen und Klimazonen, aber auch in ethnischer Hinsicht sowie im Verhalten unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen in einem Land erfahrbar ist, das von seiner Größe auf Rang 15 der Welt plaziert ist und mehr als sechsmal die heutige Bundesrepublik umfaßt. Drei Jahre reichen kaum aus, um eine Vorstellung von Dimensionen und Charakter besonders eines vielfältigen Landschaftstyps zu erhalten: der Wüste.

Mit einem kleinen Team sehr erfahrener 'Wüstenfahrer' durchquerten wir zweimal die größte Sandwüste der Welt, die Rub-Alkali. Das Familienhobby Segeln half insofern, als Satellitennavigation vertraut und die Erfahrung präsent war, daß nur vernünftige Vorplanung und eiserne Disziplin größere Touren erfolgreich enden lassen. Die durch viele Wochenendtrips - jeweils bis zu 500 Kilometer tief in das Landesinnere, lange Nächte unter freiem (Wüsten-) Himmel - zusätzlich gewonnenen Erfahrungen müssen erst noch aufgearbeitet werden, sie haben unser Denken und Fühlen doch stark beeinflußt.

Fazit

Drei Jahre Wüste? Ja, aber in besonderem Sinne. Ein Wechsel nicht nur ins Ausland, in die Wüste, sondern auch in eine andere Tätigkeit hat unbestreitbar ihre ganz großen Reize. Sicher hat man einiges an Entwicklung in Europa, in Deutschland, in der Universität verpaßt, und in einigen Fällen ist man sogar froh darüber. Zweierlei sollte aber mit Blick auf die kleine und doch so vertraute Universität Oldenburg hervorgehoben werden:

1. Man kehrt gerne wieder zurück, weil man das universitäre Leben in Oldenburg neu bewertet. Diese Bewertung schließt eine Neuorientierung der eigenen Tätigkeit ein.

2. Auf der Basis von übermittelter Information über die letzten drei Jahre Universität Oldenburg: Man wünscht ihr zehn Prozent der Gelassenheit, die meine saudischen Freunde im Ministerium an den Tag legen, wenn es zu Konflikten und auch zu Diskussionen kommt. Toleranz und Achtung Andersgläubigen und Andersargumentierenden gegenüber produziert auch größere Vielfalt. Im Wort Universität steckt doch auch 'Universalitaet'?

Eine kritische Würdigung des Aufenthaltes in Saudi-Arabien wird im Rahmen einiger Fachartikel erfolgen.


(Stand: 19.01.2024)  | 
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