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Inhalt Juli 2002

Thema


"Schöne neue Gewalt"

Fragmente einer Theorie der Gewalt / Von Rudolf zur Lippe

 

Gewalt als Thema beschäftigt mich seit anderthalb Jahren. Sie werden begreifen, aus dieser Perspektive gehöre ich zu denen, die von den Ereignissen am 11. September des vergangenen Jahres nicht überrascht wurden. Ich habe die Ereignisse am Bildschirm, gewissermaßen in Echtzeit, miterlebt und dabei gedacht, was hat uns eigentlich gepackt, dass wir nicht auf die Idee gekommen sind, so etwas längst zu erwarten.

Apathie und Verzweiflung

Wir kommen aus dem 20. Jahrhundert, das Gewalt in die bis dahin unvorstellbare Absolutheit der Vernichtungsideologie und -maschinerie getrieben hat. Das 20. Jahrhundert hat Möglichkeiten der Zerstörung der Menschheit durch von Menschen Gemachtes geschaffen.

Edvard Munch „Der Schrei“, 1893
 

Ich war immerhin schon acht Jahre alt, als die erste Atombombe fiel. Spätere und heutige Generationen wachsen in eine Welt hinein, in der diese Möglichkeiten zu den selbstverständlich diskutierten und nicht mit genügend Achtung, nur mit gelegentlichem Grauen reflektierten, gehören. Es hat schon im 20. Jahrhundert eine besondere Eskalation der Dichotomie gegeben, denn die Apathie einerseits und die Verzweiflung andererseits - das, was wir in diesen Tagen und Stunden im Nahen Osten zu beobachten haben und nicht verstehen können - gehört zweifellos in entscheidenden Aspekten in dieses Kapitel. Also, was nenne ich neue, schöne neue Gewalt? Brave new violence. Sie haben es erraten: Natürlich will ich nicht von Schönheit der Gewalt sprechen, sondern mit Huxley von Strategien einer dramatisch vorbereiteten brave new world.

Herrschaft durch Vereinnahmung

Neben die nackte Gewalt und ihre primären Ziele sind längst subtile Strategien der Gewalt getreten. Eine Strategie gegen das Subjekt sehe ich in dem Zwang zur Identität. Hier, in diesem Raum, hat der Kultur- und Gesellschaftskritiker Ivan Illich in einer der ersten Jaspers-Vorlesungen diese Strategie in der Geschichte des Hochmittelalters einsetzend als Zwang zur Identität mit dem eigenen Gedanken durch die Inquisition geschildert. Die Verinnerlichung des herrschaftlichen Rahmens hat weitere große Etappen in der europäischen Geschichte. Der Begriff der Schuld, den andere Kulturen so nicht kennen, sondern den der Verantwortung und des neuen Zusammenwirkens bevorzugen, der Begriff der Schuld gehört dazu, und es gehört etwas dazu - die Theologen mögen mir verzeihen - was ich gelegentlich, die „Lutherifizierung des deutschen Gewissens“ nenne.

Ähnlich wie im „Prozess der Zivilisation“, so hat der Kulturphilosoph und Soziologe Norbert Elias den Vorgang genannt, wird auch in dieser Linie mehr deutlich, dass die einst brutal, unmittelbar begegnende Gewalt zu einer Gewalt wird, die definitorisch auftritt. Eine der großen Strategien ist darin zu sehen, dass die Gewalt, die zunächst von außen trifft und den Anderen als Äußeren unterwirft, immer mehr zu einer inklusiven wird. Dies bedeutet zwar soweit eine Vermeidung vieler der physischen Brutalitäten, die in anderen Stadien der Menschheit mit Gewalt verbunden waren. Elias hat gezeigt, dass mit der höfischen Regulierung der Triebe die Grausamkeit im 16. und 17. Jahrhundert ganz neue Formen entdeckt hat. Aber die inklusive Gewalt ist noch totaler. Eine Art „Dialektik der Aufklärung“ scheint im Spiel zu sein. Die Abwendung von unmittelbarer, von brachialer Gewalt im Kampf noch gegen den Anderen wird weitgehend vermieden, insofern vielleicht humanisiert; aber dieser Prozess wird aufgesogen von einer anderen Form der Gewaltausübung, einer Gewalt, die einschließt. Dieses Einschließen ist ein Prozess, den ich als neue Form von Gewalt charakterisieren möchte. Und da die scheinbare Humanisierung ihm ihr Angesicht leiht, könnte er auch schön genannt werden, die schöne neue Gewalt.

Die Gleichheitsmaschine

Gewalt wird eine Kategorie, ein Vielfältiges von Strategien im Innenverhältnis, in das die Anderen hineingezwungen sind. Es sei allen Ideologien zutiefst misstraut, die den Menschen vereinheitlichend definieren. Ich gebe nur ein Beispiel: Wenn man den Menschen als manpower verrechnet und auf dem Weltmaßstab den Wert der Menschen unterschiedlicher Zivilisationen in US-Dollar berechnet, je nach dem Bruttosozialeinkommen ihrer Gesellschaften. An die Stelle des alten Kolonialismus sind solche Strategien von „equality“ getreten.

Wirklich deutlich wird, was da geschieht und wie es im Grunde gemeint ist, mit der Verkündung von Entwicklungsprogrammen. Nachdem der Faschismus, das Hitlerregime, das Dritte Reich unterworfen war, verkündete Harry S. Truman sogleich den nächsten großen Kreuzzug: die Entwicklungspolitik. An dieser Stelle hat der mexikanische Intellektuelle Gustavo Esteva aus der Sicht jener, die jenseits von „Entwicklung“ und „Hilfe“ leben wollen, sehr viel darüber gesagt: Menschen werden im Weltmaßstab definitorisch zu Bedürftigen deklariert, weil sie als Gleiche gelten und so sein müssen wie wir. Deswegen gelten für sie unsere Maßstäbe von reich und arm und sie sind die Defizitären. Einseitig wird das zur Gewalt. Politisch wird daraus “die eine Welt”. Technologisch, ökonomisch wird einfach eine Form, die wir eigentlich nur Anstiftung zum oder wenigstens Duldung von Völkermord nennen können, zu einem Willensphänomen im Weltmarkt deklariert: Die Regierung der Vereinigten Staaten von Nordamerika sagt, „wenn es gegen die Interessen unserer Industrie verstößt, dann können wir die Ozonzerstörung nicht aufhalten“. Und das heißt, wir wissen alle ziemlich genau schon, wann was an Zerstörung von Völkern und Landstrichen, Kulturen und Sprachen rund um diese Erde stattfinden wird.

Begrenzte Souveränität

Verfassungsrechtlich bedeutet das, dass die Souveränität von Staaten im Rahmen von so etwas wie einer Weltinnenpolitik durchbrochen wird. Wir haben es zum Beispiel besonders deutlich erlebt beim Kosovokrieg. Da wird Krieg geführt für die Durchsetzung von Menschenrechten. Inzwischen kann Krieg geführt werden, wo auch immer, in wessen Land auch immer, gegen Terroristen. Und wer Terrorist ist, ist eine Frage der Inklusion oder Exklusion. Wenn Tschetschenien zur Sowjetunion oder den GUS-Staaten gehört, dann ist, was dort stattfindet, Terrorismus. Wenn es ein eigenes Land wäre, würde das vielleicht Befreiungsbewegung heißen. Was aber das Entscheidende ist: Es geht gar nicht nur um Politik und Krieg, sondern um eine Wirtschaftskonzeption. Im Fall des Kosovokrieges etwa konnte die Souveränität eines Staates, anders als das Völkerrecht bisher gehandhabt und geachtet wurde, durchbrochen werden. Man kann dafür sein oder dagegen, das ist im Moment nicht mein Thema. Nur müssen wir sehen, dass hier Grundsätzliches ins Werk gesetzt worden ist: Souveränität wurde als durchbrechbar demonstriert und legitimiert. Ich sehe da einen logischen Zusammenhang mit dem MAI-Projekt der nord- und westlich orientierten Industriestaaten, mit dem die Drittweltländer, Entwicklungs- und Schwellenländer sich vertraglich verpflichten sollten, dass ausländischen Investoren das Recht auf jahrzehntelange Erhaltung der Bedingungen garantiert wird, unter denen sie investieren.

Wenn ein Land durch völlig unzureichende Umweltschutzgesetze große Investitionen von umweltzerstörerischen Industrien angezogen hat, dann muss es den Investor für entgangene Gewinne entschädigen, falls es diese Zerstörung aufhalten und andere Gesetze machen will. So bricht internationales Privatrecht das Völkerrecht. Das sind große Entwicklungen, die unglaubliche Potenziale an Gewalt freisetzen, die hinter dem stehen, was dann in einmaligen oder wiederholten symbolischen Akten von Terror zum Ausdruck kommen.

Kreativität statt Kontrolle

Sozialpsychologisch ist Gewalt auch da im Spiel, wo wir auf Kontrolle setzen, statt auf Kreativität. Zu den Anrufen, die sich mir in diesen Tagen zugesellt haben, gehörte gestern der von Ludwig von Friedeburg, der es sich vor zwanzig oder dreißig Jahren angetan hat, Minister zu werden, um eine Schulreform auf den Weg zu bringen, und mir heute sein Entsetzen ausdrückt über die Reaktionen in Deutschland zu der sogenannten PISA-Studienkatastrophe. Mehr Kontrolle, da wo eigentlich nur der Boden bereitet werden müsste, dass in den Menschen sich etwas ausbilden, erwachsen und auftreten kann. Kontrolle statt Kreativität.

Macht und Ohnmacht

Macht ist etwas anderes als solche Gewalt. Zweifellos kann Macht oft nicht auf eine wirklich sie legitimierende Ordnung hinweisen, aber sie wird immer diesen Versuch unternehmen. Gewalt etabliert sich als faktisches System. Sie wird sich mit Metaphern der Ordnung behängen und schmücken, aber sie legitimiert sich durch Effizienz und Funktionieren. Wo nur von Effizienz und Funktionieren die Rede ist, ist äußerste Hellhörigkeit geboten. Das Gewaltsystem kennt im Gegensatz zur Macht keine persönlichen Verkörperungen, keine symbolischen Gestalten mehr. Es gibt kein Subjekt mehr als Täter. Das ist neu. Gewalt ist in dieser Systematik und Objektivierung eine, die kein Opfer mehr meint. Es gibt keine Personen, es gibt nur noch gleichgeschaltete Funktionen. Wo sind da Grund und Geschichte, aus denen Reorganisation erwachsen kann, die bekanntermaßen die einzige Möglichkeit der Kontinuität von Leben und Geschichte bildet? Re-Organisation und nicht bloß Reformen. Reformen kommen definitionsgemäß ohnehin immer zu spät.

Menschen werden bewertet. Und wenn sie bewertet werden, werden sie reduziert auf das, was eine Maschine vielleicht einmal besser kann. Die Erde wird als Ressource betrachtet und als solche verbraucht. Inzwischen denken Science Fiction Hersteller und manche Wissenschaftler darüber nach, wie man sie ersetzen kann, nachdem man sie als Müllhalde weggeworfen haben wird.

Wie antworten wir? Auf jeden Fall, ob wir die Welt damit retten oder nur ein Stück Leben, da wo wir sind, es gilt zu antworten, Resonanzen aufzunehmen und zurückzugeben. In Resonanzen verwandelt sich der Aktivismus wieder in wohlbalancierte Energien. Konfrontation und Autismus können in ein Miteinander zurückfinden. Aussteigen aus den Mustern der Gewalt. Die Alternative von Macht und Ohnmacht, das habe ich in meinem Leben gelernt, ist die falsche. Ich habe immer gedacht, ich will gar keine Macht. Ich habe auch nie viel gekriegt. Und war eigentlich ganz froh. Aber ich habe gemerkt, die Alternative ist nicht Machtlosigkeit, sondern sehr oft Ohnmacht. Und Ohnmacht kann Verzweiflung und Verbitterung auslösen.

Wirkliche Begegnungen

Ich denke, dass ganz entscheidend da noch etwas geleistet werden kann. An vielen Orten ringen und kämpfen Menschen, um das Leben zu verteidigen. Als Einzelne, in Gruppen oder als Organisationen. Rund um die Welt. Unabhängig von dem jeweiligen unmittelbaren Erfolg bilden diese Beiträge eine gemeinsame Substanz. In einem gemeinsamen Bewusstein könnte sie genau die Stärke ausbilden, die dem globalen strategischen Machtapparat und seinen Gewalten gegenübertreten sollte; wechselseitige Verbundenheit auf einer ganz anderen, auf einer menschlichen Ebene. Wir müssen heraus aus der Geschichte der Eskalation, in der man immer versucht, dass die Gewalt mit Gegengewalt, und zwar natürlich einer stärkeren, vertrieben werden sollte. Das ist unsere ermutigende Einsicht. Ich glaube an die weltweiten Freundschaften, die NGOs sind eine der Ebenen; freilich schon wieder gefährdet im Sog der Institution UNO. Aber ich meine dieses als eine lebendige Ebene der wirklichen Begegnungen.

Prof. Dr. Rudolf zur Lippe, bisher Philosoph und Hochschullehrer für VisuelleKommunikation und Theorie der Ästhetik am Fachbereich Kommunikation/Ästhetik, hat mit der Rede “Schöne neue Gewalt” Ende April 2002 Abschied von der Universität Oldenburg genommen und ist in den Ruhestand getreten.

Zur Lippe, Schüler der Philosophen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno und auch des Meditiationslehrers Karlfried Graf Dürckheim, wurde 1975 nach Oldenburg berufen und initiierte 1990 die Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit.

 

(Stand: 19.01.2024)  | 
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