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Himmel und Wasser in eisigem Blau

Mit der "Polarstern" in die Antarktis / Von Ekkehard Vareschi & Gerd-Peter Zauke

Seit gut 150 Stunden scheint die Sonne ohne Unterbrechung, tags etwas höher, nachts etwas tiefer stehend. Wir sind an Deck des Forschungsschiffes „Polarstern“ und stoßen mit einem Glas südafrikanischen Rotwein auf die runde Zahl der Sonnenstunden an. Wir, das sind ein paar Unermüdliche, die sich fast jede „Nacht“ hier oben zusammenfinden, um das Schauspiel der Mitternachtssonne zu genießen. Das Meer ist spiegelglatt, Himmel und Wasser haben fast dasselbe eisige Blau, getrennt nur von der weißen Linie des Schelfrandes und einigen Eisbergen, die die Polynia - eine eisfreie Lagune im Packeis - südlich begrenzen. Seit wir vor fünf Wochen in Kapstadt ausgelaufen sind, haben wir weder Schiffe noch Menschen gesehen - einmal abgesehen von den Tagen „auf Reede“ vor der großartigen Eiskante der Atka-Bucht. Dort befindet sich der Zugang zur deutschen Neumayer-Station in der Antarktis, deren Versorgung zu den Aufgaben der „Polarstern“ gehört.

In jedem antarktischen Sommer ist das Forschungsschiff im Südpolarmeer unterwegs. Auf den Fahrtabschnitten zu unterschiedlichen wissenschaftlichen Fragestellungen sind jeweils etwa 50 WissenschaftlerInnen und ebenso viele Besatzungsmitglieder an Bord versammelt. Das Hauptziel unseres Fahrtabschnitts „ANT XXI/2“ (d.h. der 2. Abschnitt der 21. Antarktisexpedition der „Polarstern“) hat mit Eisbergen zu tun, also den Teilen des Schelfeises, die irgendwann abgebrochen sind und als schwimmende, oft mehrere Quadratkilometer große Inseln bis weit über die Packeisgrenze nach Norden treiben. Da Eisberge einen Tiefgang von mehreren hundert Metern haben können, haben sie auf ihrer Reise immer wieder Grundberührung. Die als „Eisbergkratzer“ bezeichneten tiefen Furchen im Meeresboden sind nach der tonnenschweren Last weitgehend frei von Lebewesen, das Ökosystem wird an diesen Stellen gestört.

Störungen in Ökosystemen sind nicht immer negativ zu sehen: Oftmals zeigte sich, dass ein gewisses Maß an Störungen die Artenvielfalt im betroffenen Gebiet sogar fördern kann. Unsere Expedition sollte vor allem klären, welche Auswirkungen die Eisbergkratzer auf die am Meeresboden lebenden Tiere (benthische Lebensgemeinschaft) des Weddellmeeres haben. Wir Oldenburger hatten in diesem Rahmen eine spezielle Aufgabe übernommen, die mit der Bioakkumulation von Schwermetallen zu tun hat. Polare Meeresgebiete gehören in dieser Hinsicht zu den interessantesten Gebieten der Erde. Defizite an essentiellen Spurenelementen wie Kupfer auf der einen Seite und hohe Anreicherungen von Cadmium auf der anderen Seite („polare Cd-Anomalie“) wurden vielfach beobachtet. Die Bioverfügbarkeit von Metallen kann lokal durch Abschmelzen von Meereis, durch Auftriebsphänomene oder hohe Umsatzraten von pflanzlichem und tierischem Plankton stark beeinträchtigt werden. Sedimente haben im allgemeinen einen wesentlich höheren Gehalt an Schwermetallen als Organismen oder das sie umgebende Wasser. Wenn nun Eisberge tiefe Rinnen in das Sediment reißen, könnten dadurch Schwermetalle für benthische Organismen, die diese Flächen besiedeln, in wesentlich höheren Konzentrationen verfügbar werden als auf ungestörten Flächen.

 
Arbeit der WissenschaftlerInnen auf der "Polarstern" (oben), dem leistungsfähigsten Polarforschungsschiff der Welt: ein prall gefülltes Schleppnetz kommt an Deck (g.l.) und der Fang wird sortiert (l.). Fotos: Vareschi/Zauke.

Wir wollten herausfinden, ob der Schwermetallgehalt in bestimmten am Meeresboden lebenden Tieren (z. B. Borstenwürmer, Flohkrebse und Asseln) in gestörten Gebieten tatsächlich höher ist als in ungestörten Gebieten. Soweit es möglich war, Eisbergkratzer zu datieren, wurde auch die zeitabhängige Metallaufnahme analysiert. Die Proben wurden mit Hilfe eines kleinen Schleppnetzes (Agassiz-Trawl) und mit Fallen genommen, die für einige Zeit auf dem Meeresgrund belassen wurden.

Unser Ziel war es, durch eine geschickte Probennahmestrategie eine ausreichende Menge Proben zu bekommen, um einen statistischen Vergleich zu ermöglichen. Die Ergebnisse einer solchen Analyse lassen sich dann mit den beobachteten Eisbergkratzern in Beziehung setzen, um die Hypothese einer erhöhten Metallverfügbarkeit durch Eisbergkratzer zu überprüfen. Es wird allerdings noch einige Monate dauern, bis alle Proben analysiert und ausgewertet sind.

Eigentlich hatten wir gehofft, die Probennahme so optimal gestalten zu können, dass eine Auswertung mit Methoden der Geostatistik möglich sein würde. Dieses komplexe Verfahren erlaubt es, aus punktuellen Informationen Aussagen für ganze Flächen abzuleiten. Leider hatten wir die Rechnung ohne Neptun gemacht: Nachdem wir die Neumayer-Station versorgt und unsere Robbenforscher weiter südlich im Drescher-Inlet für ein Eiscamp abgesetzt hatten, schloss sich das Packeis und ließ dem Schiff nur wenig Bewegungsfreiheit. Immer wieder mussten wir uns in eine große Polynia zurückziehen, die sich um einige gestrandete Eisberge bei Austasen gebildet hatte. Für die meisten Gruppen - so auch für uns - war es fortan schwierig, an Proben aus den gewünschten Gebieten zu kommen bzw. Fallen vom Meeresboden zu bergen. Einzig diejenigen, die mit Plankton arbeiteten, waren begeistert. Ihnen bescherte der Aufenthalt in der Polynia eine einmalig dichte Zeitreihe von Proben, die das Frühlingserwachen des pflanzlichen Planktons mit allen Folgen für die Entwicklung des tierischen Planktons dokumentiert.

Bei widrigen Wetterbedingungen die unterschiedlichen Interessen von 50 WissenschaftlerInnen unter einen Hut zu bekommen, brachte für unseren Bremerhavener Fahrtleiter Wolf Arntz und seinen Planungs-Chef Thomas Brey oft knifflige logistische Probleme. Glücklicherweise fanden diejenigen ForscherInnen, die sich auf bestimmte Tiergruppen spezialisiert hatten, fast in jedem Netzfang und jeder Falle reiche Beute - insbesondere am Anfang unserer Fahrt, als wir bei 53° Süd, 10° Ost vor der Insel Bouvet kreuzten, einer der entlegensten Inseln der Welt. Unsere Fänge erweiterten die bisher eher geringen Kenntnisse der dortigen Meeresfauna stark und erbrachten eine ganze Reihe neuer Tierarten. Bouvet Island könnte ein „Trittstein“ sein für Arten, die vom südamerikanischen Kontinent her das Weddellmeer besiedeln.

Antarktische Tiere als bizarre Schönheiten: v.l.n.r. Borstenwürmer, Assel, Flohkrebs und Garnele. Fotos: Vareschi/Zauke

Für uns Ökologen war es oft schwierig, unsere Proben bestimmten Arten zuzuordnen. Da hilft nur eine sorgfältige fotografische Dokumentation in Verbindung mit konserviertem Material, das später von Spezialisten bearbeitet werden kann. Da wir unsere klassische Ausrüstung für Makrofotografie in Oldenburg gelassen hatten, versuchten wir, unsere schon etwas ältere Digitalkamera ohne jeden Adapter einfach vor das Okular zu halten. Das Ergebnis verblüffte selbst unsere Fotografen: die Bilder wurden exzellent, von großer Schärfe und Brillanz, eben so, wie sie das Auge des staunenden Betrachters sonst direkt durch das Okular sieht. Die Fotos auf dieser Seite zeigen eine kleine Auswahl der über 1000 Makrofotos, die auf der Reise von allen Organismen entstanden sind, die wir für unsere Schwermetallanalysen verwenden konnten - oder die einfach zu schön waren, um unfotografiert wieder über Bord zu gehen. Die „Polarstern“ ist eine ideale Forschungsplattform, ausgerüstet mit Labors, modernster Fischereitechnik, zwei Hubschraubern, (fast) allem Komfort eines modernen Kreuzfahrtschiffs und vor allem einem Stahlbug, der es erlaubt, selbst meterdickes Eis zu durchbrechen.

Es ist wirklich ein Privileg, mit diesem Schiff im Polarmeer zu arbeiten. Diese Forschungsfahrten haben allerdings kaum mehr etwas mit den frühen, gefahrvollen Expeditionen gemein, die wir mit den Namen Bellinghausen, Shackleton oder Amundsen verbinden. Mit einer entscheidenden Ausnahme: wenn wir in der Mitternachtssonne an Deck der „Polarstern“ stehen, sehen wir eine grandiose Landschaft aus Eis, Wasser, Licht und Himmel, die seit Jahrtausenden nahezu unverändert besteht - und das kann man gewiss nur noch von sehr wenigen Regionen dieser Erde behaupten. Es ist zu hoffen, dass die Ergebnisse dieser Reisen einen kleinen Beitrag dazu leisten können, dieses einzigartige Ökosystem zu erhalten.

(Stand: 19.01.2024)  | 
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