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"Sie sind doch Deutsch, warum war das so?"

Der 8. Mai als Ende eines Überlebenskampfes: Porträts jüdischer Frauen in der ehemaligen Sowjetunion / Von AniKa Walke

Porträts jüdischer Frauen, die die deutsche Besatzung der Sowjetunion überlebten und heute in St. Petersburg (Russland) und Minsk (Weißrussland) leben, stehen im Mittelpunkt eines geplanten Buches von Anika Walke (Institut für Politikwissenschaft). Für ihre Arbeit wurde die Soziologin, die derzeit promoviert, mit dem Hadassah-Brandeis Institute Research Junior Award 2005 ausgezeichnet. Das Institut an der Brandeis University (Massachusetts/USA) befasst sich als weltweit erste universitäre Einrichtung explizit mit Forschungen zum Leben jüdischer Frauen. Der Beitrag von Walke stammt aus ihrem Buch, das in diesem Jahr in russischer, englischer und deutscher Sprache erscheinen wird.

Am 8. Mai 2005 jährt sich die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches vor den alliierten Truppen und damit das Ende des Zweiten Weltkriegs zum sechzigsten Mal: „Kriegsende“, „Niederlage“, „Befreiung“ - je nach Sichtweise werden verschiedene Begriffe verwendet. Aus der Sicht derjenigen, die von der Verfolgung und Vernichtung durch die angreifenden deutschen Truppen bedroht waren, mag „Befreiung“ der naheliegendste sein. In Gesprächen mit jüdischen Überlebenden der deutschen Besatzung der Sowjetunion erfuhr ich, dass diese Empfindung brüchig ist.

Das erste Mal begegnete ich Lidija Gerschowna Dossowizkaja am 7. Mai 2001 in St. Petersburg, kurz vor dem alljährlich begangenen „Tag des Sieges“. Wie jedes Jahr waren Straßen und Fassaden geschmückt, um die Freude über die Befreiung von nationalsozialistischer Herrschaft einschließlich der 900 Tage dauernden deutschen Blockade Leningrads auszudrücken.

Lidija Gerschowna relativierte diese Freude. Die zermürbende Frage nach dem „Warum“, Erinnerungen an grausame Erlebnisse und auch Verbitterung prägten ihre Erzählung. Abgebrochene Sätze, Wiederholungen und die Frage, ob ich auch alles verstünde, spiegeln wider, wie sich die traumatischen Erfahrungen ins Bewusstsein eingebrannt haben und das Erzählen zur Qual und bisweilen unmöglich machen. Eine zweite Begegnung im Jahr darauf machte mir wiederholt bewusst, dass Erinnern für die Überlebende äußerst schmerzhaft ist. Trotzdem spricht sie mit mir.

Lidija Gerschowna wurde 1926 in Djatlowo geboren, einem Zentrum jüdischen Lebens in Ostpolen. Mit ihren Eltern, einem Bruder und einer Schwester erlebte sie 1939 die Annexion durch die UdSSR, nach der das religiöse Leben der jüdischen Gemeinde nahezu zum Erliegen kam. Zugleich trafen erste jüdische Flüchtlinge ein, die von der Judenverfolgung der Nationalsozialisten im okkupierten Polen berichteten.

Das Elend im Ghetto

Als die ersten Deutschen am 30. Juni 1941 in Djatlowo einrückten, war Lidija 15 Jahre alt und hatte soeben die Sieben-Klassen-Schule beendet. Wenige Wochen später begannen SS und SD mit dem systematischen Massenmord. Im September wurden 4.500 Juden und Jüdinnen in einem Ghetto zusammengepfercht. Es folgten Pogrome, bei denen im Dezember 1941 und Juli 1942 3.500 jüdische Menschen ermordet wurden.

„Leben“ im Ghetto - das bedeutete drangvolle Enge, Hunger, Zwangsarbeit. Die entwürdigenden Lebensbedingungen waren Ergebnis der Besatzungsstrategie, die auf Aushungerung und Ausnutzung der jüdischen Bevölkerung setzte. Lidija Gerschowna musste in der Küche der Wehrmacht arbeiten, andere wurden zum Straßenbau, in der Rüstungsindustrie oder zu anderer schwerer körperlicher Arbeit zwangsverpflichtet.

Die Konfiszierung jüdischen Eigentums, die „Arisierung“, war von brutalem Terror begleitet:

„Sie haben hier ja alles weggeschleppt. Das weiß ich noch wie gestern. Die Deutschen sagten, dass wir alle Wintersachen abgeben sollten. Wenn man einen Pelzkragen an der Jacke hatte, dann sollte man den abschneiden und abgeben. Eine Familie, die sollten alles Gold, was sie hatten, abgeben, und das haben sie auch getan. Aber um alle zu erschrecken, haben sie sie erschossen: ’Du hast zu wenig gebracht!’ Die ganze Familie, vor aller Augen! Verstehen Sie?“

Erschießung russischer Partisanen durch deutsche Soldaten 1941. Die Partisanen hatten zuvor ihr eigenes Grab schaufeln müssen.

Noch heute fragt sich Lidija Gerschowna angesichts der Misshandlungen und Demütigungen, die sie im Ghetto mit ansehen musste, wie es möglich ist, dass Menschen so bestialisch mit Frauen, Männern, Kindern umgehen. Sie stockt immer wieder, doch dann fließt ein Strom von Erinnerungen: „Ich habe das schon erzählt, wie der eine das Kind genommen und gegen die Wand geschlagen hat und der Mutter danach in den Bauch schoss. Kann man danach ...? Sagen Sie!“ - sie bricht im Satz ab, ehe sie weiterspricht. Vielleicht wollte sie sagen: Wie kann der Deutsche, der es getan hat, weiterleben? Wie kann die Rechtsnachfolgerin des „Deutschen Reiches“ sich der Verantwortung für die Opfer entziehen - und der Verantwortung für die traumatisierten Überlebenden?

„Ich verstehe das nicht, diese SS-ovzy, als wir schon im Ghetto festsaßen, da trieben sie uns einmal auf dem Marktplatz zusammen. Ein Mann war erwischt worden, als er mit gefälschten Papieren in eine andere Stadt gefahren war, um Kartoffeln zu besorgen. Wenn Sie das gesehen hätten, wie sie ihn förmlich in Stücke geschnitten haben, damit er verrät, wer ihm die Papiere verschafft hat - aber er hat nichts gestanden. Das rechte Ohr haben sie ihm abgeschnitten, dann einen Fuß, Finger an der Hand, er hat geschrieen, gebrüllt, wenn Sie das nur gesehen hätten, soviel Blut ... und alle wurden dahin getrieben und mussten sich das anschauen. Wer nicht wollte, den haben sie gleich an Ort und Stelle erschossen. Wenn Sie das als junge Frau gesehen haben, was die angerichtet haben, wenn Sie sich überlegen, was ich mit ansehen musste - grausam ist das! Und wissen Sie, dann haben sie ihm die Zunge abgeschnitten, und dann haben sie ihn, er atmete schon kaum noch, dann haben sie ihn einfach da liegen lassen ... Wissen Sie, also das, was ich da gesehen habe, das kann man gar nicht beschreiben, nicht erzählen kann man das. Die SS-ovzy, die hatten doch auch Familie, Kinder - wie konnten die nur so etwas tun? Einfach ein Kind aus dem Kinderwagen herausnehmen, am Bein hochhalten, schlagen, bis das Kind tot war ... Wissen Sie, das ist nicht in Worte zu fassen. Bis zum heutigen Tage kann ich nicht verstehen, wie die Deutschen sich so aufführen konnten.“

Flucht zu den Partisanen

Lidija verlor ihre Eltern und ihren Bruder, sie wurden wahrscheinlich gemeinsam mit vielen anderen Jüdinnen und Juden auf dem Gelände des jüdischen Friedhofs der Stadt erschossen: „Als sie dort ankamen, da waren schon Gräben vorbereitet, und wissen Sie, vier Tage lange konnte man die Schreie der Verletzten hören, vier Tage haben sie geschrieen, das haben die Anwohner erzählt. Und dann kam das Blut nach oben, wie ein Meer war das. Vier Tage lang. Und dann waren sie tot. Sie waren lebendig begraben worden, verstehen Sie.“

Im August 1942 wurde das Ghetto vollständig aufgelöst, „da sollten alle umgebracht werden“. Als die Räumung begann, versuchten zahlreiche Menschen zu fliehen, auch Lidija und ihre Schwester. Frau Dossowizkaja beschreibt diesen Moment als einen, in dem keine Zeit zum Nachdenken oder Abwägen verblieb, in dem das „Danach“ vollkommen unklar war:

Eine jüdische Partisanengruppe in Wilna nach Kriegsende.

„Es war mir irgendwie eingebrannt, dass ich leben sollte, soviel hatte ich begriffen. Meine Schwester ist mit mir zusammen fortgerannt. Sie wurde angeschossen, als wir alle wegrannten. Ich wollte zu ihr hin, aber sie hat geschrieen: ’Lauf! Lauf! Ich komme nach!’ Aber sie kam nicht. Später erzählte man, dass sie mit in die Synagoge gebracht wurde, da wurden alle hineingetrieben, alle. Und im Wald war eine große Grube ausgehoben worden ...“

Manche Flüchtlinge versteckten sich in umliegenden Dörfern, wurden von Bekannten oder Fremden aufgenommen. Eine Gruppe, zu der Lidija gehörte, floh in den Wald und wurde Tage später von jüdischen Partisanen gefunden. Die Sechzehnjährige wurde in eine jüdische Partisaneneinheit aufgenommen, die vor allem Frauen, Kindern und älteren Menschen eine Zuflucht vor den systematischen Massakern bot. Einheiten wie diese errichteten eine Versorgungsstruktur, die auch andere Partisaneneinheiten nutzten: Bäckereien, Fleischereien, Hospitäler und Werkstätten ermöglichten das Leben im Wald und den militärischen Kampf gegen die Besatzungstruppen.

„Ich hatte nichts mehr“

Man musste die Leute dort ja auch versorgen, Geschirr musste gespült werden, Küchenarbeit halt, und Waschen und Saubermachen, das habe ich alles gemacht, aber verstehen Sie, ich kann mich kaum daran erinnern, ich habe immer nur an meine Eltern gedacht.“

Die Attacken von Besatzern und Kollaborateuren zwangen die Gruppe zu Fluchten und Verstecken unter schwierigsten Bedingungen: „Einmal hatte den Deutschen jemand verraten, wo wir waren, es gab ja unter den Weißrussen und Polen auch Denunzianten. Wir wurden angegriffen, und, ich weiß nicht wie lange, einen Monat vielleicht, saßen wir in der Kälte fest, bei 40 Grad minus. Hungrig waren wir, hatten nichts zu essen und nichts zu trinken. Feuer konnte man auch nicht anmachen, das hätten die Deutschen ja gesehen. Ich weiß gar nicht, wie wir das überlebt haben - kein Bad, nichts. Waschen konnte man sich fast nie, es gab kein heißes Wasser, höchstens auf dem Feuer konnte man das wärmen, weiter nichts.“

Zwei Jahre lang, bis zum Sommer 1944, lebte Lidija Gerschowna in der Partisaneneinheit. Die Rückkehr in das zerstörte Djatlowo konfrontierte sie mit der Gewissheit, alles verloren zu haben: „Zu Hause war es schlimm, ich hatte gar nichts, absolut nichts, keine Eltern mehr, niemand war da. Vier Wände, nichts weiter, alles war ausgeplündert, da war nichts mehr.“

Noch Jahrzehnte später wird sie von den Erinnerungen eingeholt, Tag und Nacht: „Wissen Sie, wie viele Jahre sind seitdem vergangen, und man vergisst es einfach nicht. Als Jugendliche, da wachte ich morgens auf, und sofort sah ich in Gedanken meine Eltern vor mir. Kein Foto, nichts hatte ich von ihnen, ich konnte ja nichts mitnehmen. Du stehst morgens auf und denkst, es ist soviel Zeit vergangen, und du kannst an nichts anderes denken. Warum ist das so?“

Früher fuhr sie jedes Jahr zum Grab der Eltern - dem Ort, an dem sie mit mehreren hundert jüdischen EinwohnerInnen von Djatlowo ermordet wurden. Der Schmerz wird nicht kleiner: „An ihren Geburtstagen stelle ich Kerzen auf, ich werde verrückt, weine ...“

Trauer und Empörung empfindet sie aber auch wegen der jahrzehntelang ausgebliebenen Anerkennung der Leiden - von deutscher wie sowjetischer Seite. Die ab 1990 erstmals angebotenen deutschen Entschädigungsleistungen waren an den Nachweis der Verfolgung geknüpft - doch über die Inhaftierung in den Ghettos existieren kaum Dokumente. Vier Jahre brauchte Frau Dossowizkaja, um die Nachweise zu erhalten, gab für Übersetzungen einen Großteil ihrer Rente aus. „Viel Zeit ist uns doch nicht mehr geblieben. Sie sollten uns eine Rente geben bis ans Lebensende, nach all dem, was wir durchmachen mussten. Oder? Dieses Unglück, das vergisst man nie.“

Was bleibt, ist eine Leere

Einen Tag nach dem Interview begegneten wir uns bei einer Feier ehemaliger jüdischer Häftlinge anlässlich des Tages der Befreiung. Hier höre ich von mehreren Überlebenden, was mir in dem Gespräch mit Frau Dossowizkaja bewusst geworden war: Der Tag, an dem der Krieg beendet wurde, stellte für viele Jüdinnen und Juden das Ende eines Überlebenskampfes dar, der nicht von Sieg, sondern von Verlust und Trauer geprägt war. Sie hatten oft kein Zuhause mehr und auch sonst keinen Ort, an den sie hätten gehen können. Vor allem aber wussten sie, dass keine Familie auf sie wartete, weil alle Angehörigen ermordet worden waren. So war in die Freude über die Befreiung vom Krieg immer auch die Trauer um Mütter, Väter, Geschwister, Freunde und Bekannte, über den Verlust des früheren Lebens, in das es keine Rückkehr gab, eingeschlossen.

„Warum sollten wir vernichtet werden? Das verstehe ich nicht. Nun sagen Sie doch, Sie sind doch Deutsche, warum ist das so gewesen?“ Die systematische Tötung von Hunderten Menschen stellt sich als sinnlos dar - und gerade das rastlose und vergebliche Bemühen von Frau Dossowizkaja, einen Sinn, eine Erklärung zu finden, zeugt von der Leere, die wir trotz aller Forschungen und Rationalisierungen nicht füllen können - einer Leere, die das Leben der Überlebenden durchzieht.


(Stand: 19.01.2024)  | 
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