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Hochschulzeitung UNI-INFO

Inhalt 1/2011

Thema

"Würde ist das, was den Menschen ausmacht"

Karl Jaspers Vorlesungen: Oskar Negt über das „Umgreifende“, den politischen Menschen und Demokratie als Lebensform

Prof. Dr. Dr. h.c. Oskar Negt (Foto), einer der profiliertesten Vertreter der kritischen Theorie, war im Dezember Gast der Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit, die 2010 ihr 20-jähriges Bestehen feierten. Der 1934 geborene Sozialphilosoph machte an der Oldenburger Hindenburg-Schule (dem heutigen Herbart-Gymnasium) Abitur. Nach dem Studium der Philosophie und Soziologie in Frankfurt a. M. promovierte er 1962 bei Theodor W. Adorno. Danach wurde er Assistent von Jürgen Habermas, der 1998 Gast der Jaspers Vorlesungen war. Von 1970 bis 2002 forschte und lehrte Negt in Hannover. In seinem Festvortrag sprach er über das Thema „Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform“. UNI-INFO gibt Auszüge der frei gehaltenen Rede wieder.

Es gibt einen Zentralbegriff bei Jaspers, der mich schon in den 1950er Jahren beeindruckt hat, weil er so unbestimmt und so überzeugend zugleich war, nämlich das „Umgreifende“. Jaspers ist nicht derjenige Existenzphilosoph, der gewissermaßen die Existentialien an den Subjekten befestigt – unveränderlich wie die Fundamentalontologie Heideggers. Sondern bei Jaspers sind die Existentialien im Werden, das heißt in Bewegung. Deshalb ist für ihn nicht das Seinsgeschick oder was aus dem Sein redet das Entscheidende, sondern der bewusste Akt der Existenzerhellung ist die durchgehende Methode seines Denkens. Und das Umgreifende umfasst eben nicht die Welt abstrakt, sondern das Umgreifende ist in jedem einzelnen Ding da. Das ist das, was das Ding überschreitet, ganz im Sinne von Adorno, der gesagt hat: Wer nicht weiß, was über die Dinge hinausgeht, weiß auch nicht, was sie sind. (…)

Wirklichkeit und Krise

Was ist Wirklichkeit? Es ist ja eine fatale Situation, in der wir uns befinden: Was ist denn eigentlich noch wirklich? Sind 750 Milliarden Schutzschirmzahlungen, das sind zwei Staatshaushalte unseres Landes (…) etwas Wirkliches, oder haben wir es mit einer völligen Verdrehung von Utopie und Wirklichkeit zu tun? (…) Das Geld als Vermittlungsmedium der Warenproduktion: Warum kann sich das so verselbstständigen, dass eigentlich gar nichts mehr in Bezug auf die Produktion passiert? Drei Billionen Geschäftsakte gibt es täglich in den Finanz- und Devisenströmen, drei Billionen. Davon sind nur drei Prozent bezogen auf die Produktion. Das heißt, nur drei Prozent dieses Reichtums, und ja nicht nur fiktiven Reichtums, kehren in die Produktion zurück. Wo soll da eine Erweiterung von Arbeitsplätzen stattfinden? Das heißt, wir haben es hier mit einer Zerreißung von Wirklichkeit zu tun, wie es sie so noch nicht gab. (…)

Wie sieht diese Krise aus? Es ist keine Konjunkturkrise. Wir haben über 100 Milliarden Exportüberschuss, das ängstigt unsere Nachbarn, die sich allmählich kolonialisiert fühlen. Und sie sagen, holt die 100 Milliarden zurück und steckt sie in den Konsum der Bevölkerung. Dann müsste man ja aber der Bevölkerung was verteilen, dann müssten wir ja nicht Hartz IV mit 5 Euro aufstocken. Und lächelnd gibt die Arbeitsministerin bekannt: Das ist ein Erfolg. Aber jetzt ist man sich noch nicht einmal sicher, ob... Das heißt, es ist ein Spiel mit dem Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung. Ein Spiel. (…)

In dieser Krisensituation haben wir es mit dem Zustand ausgesetzter Regeln zu tun, aber mit einer Suchbewegung. Viele Menschen suchen gegenwärtig. Und die alten Loyalitäten und Bindungen sind verloren gegangen. Keine Partei kann sich mehr auf eine gesicherte Klientel verlassen. (…) Die Bindungen und Loyalitäten sind schwankend. Das kann negativ, aber auch positiv betrachtet werden. Positiv in dem Sinne, dass man Angebote machen kann für Bindung. Das ist aber eine kulturelle Suchbewegung, mit der wir es zu tun haben. (…)

Polarisierung und Phantasie

Es gibt den Versuch, die Krise zu lösen durch Polarisierung. Zum Beispiel im Bildungssystem: Dass man sagt: Eliteuniversität. Das war ein falsches Wort. Das war eine Schülerin von mir, die es benutzt hat in ihrer Zeit als Bildungsministerin, was mich sehr enttäuscht hat. Ich meine, die Eliten des 20. Jahrhunderts können sich nicht sehen lassen. Und die heutigen auch nicht. Wenn man sieht, wer Kennedy in den Vietnam-Krieg beraten hat: McNamara brauchte 30 Jahre, um zu sagen, es war ein Fehler. Oder Rice im Irak-Krieg. Da kann man nur sagen: Auf solche Eliten kann man verzichten. (…)
Das heißt, die Polarisierung führt dazu, dass das gesamte Bildungssystem heruntergedrückt wird und einige privilegierte Universitäten, Forschungsstätten mit Mitteln versehen werden, die auch nicht großartig sind. Also 50 Millionen für eine Exzellenzuniversität ist auch eine Schande gemessen an vielen anderen Aktivitäten. (…)

Und ich glaube, dass es eine fatale Bereitwilligkeit auch von HochschullehrerInnen gibt, diesen selbstzerstörerischen Prozess der Bildung mitzubegleiten, auch mitzuorganisieren. Das hat Kant einmal die „selbstverschuldete Unmündigkeit“ genannt, und nicht die fremd verschuldete. Sie ist ein Element in diesem Prozess. Ich bin bestürzt darüber, wie manche Universitätskollegen privat, wenn sie einen Schnaps getrunken haben, über den Bologna-Prozess herziehen, aber nichts weiter machen, als ihn zu organisieren. Das ist schon eine fatale Situation.

Diese Polarisierung soll ja Kräfte bündeln, ist aber eine Entmachtung von Experimenten, die auf dem normalen Bildungswege zustande kommen. Die Phantasie, die Neugierde der Menschen, die in die Universität oder Schule gehen, wird durch eine Überbordung von Materialien, der bloß addierten Materialien erdrückt. Und häufig, nicht immer, haben die Schulen die Funktion, wenn die Schüler dann in die erste, wirklich gesellschaftlich relevante Institution kommen, ihnen die Neugierde zu nehmen. (…)
Wir haben es hier mit einer gesellschaftlich zerrissenen Situation zu tun. Ich möchte betonen, dass das eine Selbstzerrissenheit der Gesellschaft signalisiert, die, was arm und reich betrifft, etwa dem Zustand vor der großen französischen Revolution entspricht. (…) Das heißt, die Polarisierung von arm und reich, von Peripherie und Zentrum, von Exzellenz- und Normalausbildung ist ein falscher Weg der Krisenlösung. Da hilft auch nicht, wenn es nicht nur ein Wachstumsgesetz gibt, sondern ein Wachstumsbeschleunigungsgesetz. (…)

Bildung und Demokratie

Was ist Bildung? Eine hochkomplexe Gesellschaft wie die unsere hat zwar Spezialbildung zur Notwendigkeit. Dass einer eine Computer-Kompetenz besitzt oder eine andere Kompetenz, ist für das Funktionieren unserer Gesellschaft wichtig. Aber gerade die Zerstreuungstendenz und Selbstzerreißungstendenzen in der Gesellschaft machen es notwendig, dass wir das, was wir unter Demokratie verstehen, als unverkäufliches Gut betrachten. Demokratie ist die einzige staatlich verfasste Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss. Alle anderen Gesellschaftsordnungen müssen nicht gelernt werden. Das heißt, da sind die Lernenden sogar störend, wie etwa in Diktaturen, autoritären Systemen. Aber Demokratie muss gelernt werden und das bedeutet, dass eine Ausweitung des Bildungsbegriffs, für den andere Zeitstrukturen bestimmend sind als die betriebswirtschaftlich rationalisierte Zeit. Das heißt, wir müssen wieder darum kämpfen, dass Umwege und Abwege zur Bildungsgeschichte des Menschen gehören. Rousseau hat einmal gesagt, bei der Erziehung kommt es darauf an, nicht Zeit zu gewinnen, sondern Zeit zu verlieren. Auch das ist richtig. Lernen ist eine Art Vorrat, den ich anlege. Nicht, dass ich das, was ich unmittelbar lerne, sofort anwenden kann. (…)
Die Enttäuschungen von der Demokratie dürfen nicht dahin führen, dass das System umkippt in dem Sinne, dass die Menschen so enttäuscht sind von dieser Form der Demokratie, dass sie jetzt suchen nach schnelleren Lösungen. Und schnellere Lösungen sind immer mit den Versprechen autoritärer und diktatorischer Systeme verknüpft.

Ich glaube, es ist wichtig, zwei Dinge zu beachten. Nämlich, dass das Lernziel ist, Zusammenhang herzustellen. Und ich habe in diesem Komplex ja das Umgreifende von Jaspers zitiert, was ein guter Begriff für das Ganze ist. Und dass wir sehr viel tun für Aufklärung im Kantschen Sinne: Habe Mut, dich deines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen. Aufklärung ist der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Sie ist ein Ausgang, eine Bewegungsform. Ich glaube, da gehört Jaspers zu dieser Aufklärungs-Tradition, die ich skizziert habe. Weil sein Begriff der Existenzerhellung sichtbar machen will, was verdunkelt und unterschlagen ist. Verdunkelt und unterschlagen ist auch das, was den ersten Artikel unseres Grundgesetzes bezeichnet, nämlich Würde. Und Würde hat nach Kant keinen Preis. Würde ist eigentlich das, was den Menschen ausmacht im Unterschied zu allen anderen Lebewesen.

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Heimweh lautet ihr Motiv

„Theatralische Tiefenbohrung“ auf Grundlage von Jaspers Dissertation

Mit „Heimweh und Verbrechen“ stand erstmals ein Schauspiel auf dem Programm der Karl Jaspers Vorlesungen. Das zum 550-jährigen Bestehen der Universität Basel entstandene Stück von Hilde Schneider und Beate Faßnacht beruht auf Jaspers Dissertation. Er war in seinen psychopathologischen Studien auf unerklärliche Verbrechen gestoßen, die Dienst- und Kindermädchen an den Kindern ihrer Dienstherren begangen hatten. Als Motiv nannten sie Heimweh. Die „theatralisch-musikalische Tiefenbohrung“ unternahm mit vier SchauspielerInnen und einem Alphorn-Bläser eine Reise in die abgründige Vergangenheit dieses Gefühls. UNI-INFO gibt eine Szene wieder:


Auf dem Seziertisch die heimwehkranke Kindsmörderin: Kristina Brons als Apollonia S., im Hintergrund Hansrudolf Twerenbold als Mediziner und Rebekka Burckhardt als Anklägerin und Psychologin. Foto: Markus Hibbeler


PSYCHOLOGIN: Das ist nur Ihr Bild von einer Heimat. Dieser Ort, von dem Sie da sprechen.
PÄDAGOGE: Für mich wird ein Ort immer erst dann zur Heimat, wenn ich ihn verlassen habe. Er taucht dann am Horizont als Heimat auf. Der Ort, den ich verlassen habe. Meine ich.
PSYCHOLOGIN: Ein verlorener Ort. Eine Überhöhung ist das ... die Überhöhung eines verlorenen Ortes.
MEDIZINER: Es ist eine sehr häufige Krankheit, auch wenn sie durch die modernen Verkehrsverbindungen abgenommen hat.
PSYCHOLOGIN: Heimweh haben heißt nicht unbedingt heim gehen wollen.
MEDIZINER: 1. Stadium: Aufregung, Steigerung der Wärme auf dem Kopfe, gehobener Pulsschlag, regellose Bewegungen, Röte der Bindehaut, unsteter Blick, hastiges und nachlässiges Spre-chen, Gähnen, Seufzen, Verstopfung … .
PSYCHOLOGIN: Ich würde sagen … eine pathogene Fixierung. Ein Welt ... oder besser ein Wirklichkeitsverlust.
PÄDAGOGE: Erst wenn ich einen Ort verlassen habe, taucht er für mich am Horizont als Heimat auf. Das ist gut, das gefällt mir.
PSYCHOLOGIN: Geht es Ihnen so schlecht?
MEDIZINER: Deutschschweizer geben ihre Gefühle nicht preis.
PSYCHOLOGIN: Mir scheint, Sie brauchen das Heimweh, um Ihre Unzufriedenheit mit der Gegenwart zu heilen.
MEDIZINER: Es gibt da eine Kälte, die von ihrem Klima inmitten der vielen Berge kommt. Es ist nicht verwunderlich, dass Menschen, die nahe beim Schnee leben, so sind. Das ist ganz normal.
PSYCHOLOGIN: Völlig normal.
MEDIZINER: 2. Stadium: Druck und Gefühl von Zwang in allen Teilen, Magen und Zwerchfell verfallen in eine gewisse Trägheit, Symptome von Magen-Darm-Entzündung, das Fieber wird heftiger.
PÄDAGOGE: Die eigentliche Nostalgie tritt besonders im Alter der Illusionen auf. Der junge Student, der Rekrut leiden daran. Auf diese Weise hat man auf dem Rückzug von Moskau eine große Menge von Gefährten hinscheiden sehen.
PSYCHOLOGIN: Blödsinn. Die sind doch nicht am Heimweh gestorben.
MEDIZINER: Es bleibt zu klären, wie ein Gefühl zur Krankheit werden, zum Tod oder in den Wahnsinn führen kann. 3. Stadium: Schwäche, allgemeines Sinken der Kräfte, Traurigkeit, Seufzen, Tränenvergießen, Abscheu vor Nahrungsmitteln und klarem Wasser, Selbstmord oder allmähliches Erlöschen der Lebenskraft.
PÄDAGOGE: Die ganze Liebe ins Erinnern, so dass für das Tun.



(Stand: 19.01.2024)  | 
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