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FRÜHJAHR 2012
vor dem Studium absolviert. Im Jahr 2009 waren 66 Prozent
aller Studierenden „nebenbei“ erwerbstätig. Die Zahl der er-
werbstätigen Studierenden steigt mit dem Alter an und liegt
bei 79 Prozent der 30-Jährigen.
Es liegt also auf der Hand: Berufstätigkeit und Studium sind
sehr viel stärker miteinander verzahnt, als es die Hochschu-
len wahrnehmen wollen. Und das, obwohl die Zahl der
berufstätigen oder berufserfahrenen Studierenden steigen
wird. Wenn sich ihnen die Möglichkeit bietet, werden viele
Bachelor-Absolventen in die Erwerbstätigkeit wechseln und
erst später – berufsbegleitend – zu einem Masterstudium an
die Hochschulen zurückkehren.
Hochschulpolitik und die Hochschulenmüssen einiges leisten,
um besser vorbereitet zu sein – auf die veränderten Anfor-
derungen ihrer bisherigen Zielgruppe, aber auch auf neue
Zielgruppen. Die Politik hat ersteWeichen bereits gestellt. So
hat die Kultusministerkonferenz mit einem Beschluss im Jahr
2009 dieVoraussetzungen für einen erweitertenHochschulzu-
ganggeschaffen. SeitdemhabenMeister, Techniker, Fachwirte
und Inhaber gleich gestellter Abschlüsse den allgemeinen
Hochschulzugang;  beruflich Qualifizierte ohne Aufstiegs-
fortbildung haben den fachgebundenen Hochschulzugang.
Für das deutsche Bildungssystem ist die Regelung äußerst
weitreichend. Der Hochschulforscher Andrä Wolter schätzt,
dass nunmehr etwa 75 Prozent der deutschen Bevölkerung
studieren könnte. Der Abiturient sitzt neben dem Gärtner,
der Biologie studiert. Oder neben dem Raumausstatter, der
sich für das Studium der Materiellen Kultur entschieden hat.
Darauf müssen wir künftig vorbereitet sein.
Um die Attraktivität eines Studiums für Berufstätige zu er-
höhen, hat die Kultusministerkonferenz, in Einklang mit den
Vorgaben des Bologna-Prozesses, bereits im Jahr 2002 dieVo-
raussetzungen für eine weitere Neuerung geschaffen – die in
den Hochschulen allerdings bislang kaumbekannt ist. In den
ländergemeinsamen Strukturvorgaben der Kultusminister-
konferenz vom4. Februar 2010 heißt es, dass „nachgewiesene
gleichwertige Kompetenzen und Fähigkeiten, die außerhalb
des Hochschulbereichs erworben wurden (...) bis zur Hälfte
der für den Studiengang vorgesehenen Leistungspunkte an-
zurechnen“ sind. Soll
heißen: Berufstätige
können sich beruf-
liche Kompetenzen
auf das Studium an-
rechnen lassen, sofern die Kompetenzen den zu erbringenden
Leistungen im Studiumentsprechen. Imbesten Fall kann sich
die Studienzeit für Berufserfahrene dadurch um die Hälfte
reduzieren.
Was sich nach einem Durchbruch für studieninteressierte
Berufstätige anhört, stößt in der Praxis allerdings auf weit-
reichende Hemmnisse. Da sind die Quotierungen bei den
zulassungsbeschränkten Studiengängen, die die Zahl der be-
rufserfahrenen Studierenden begrenzen.Viel entscheidender
ist aber noch dieTatsache, dass die Angebotsformate nicht auf
die Anforderungen Berufstätiger zugeschnitten sind.
Empirische Studien belegen seit langem: Die Öffnung der
Hochschulen für neue Zielgruppen, wie siemit den Beschlüs-
sen der Kultusministerkonferenz eingeleitet wurde, ist allein
nicht hinreichend. Sie bedarf vielmehr flankierender Maß-
nahmen.Wir brauchen Beratungs- und Betreuungsangebote
bereits vor Beginn des Studiums,  aber auch in der ersten
Studienphase. Genauso erforderlich sind flexible Studien-
strukturen,  abgestimmt auf die zeitlichen Beschränkungen
undVorerfahrungen der Berufstätigen und Berufserfahrenen.
Die Ausrichtung am
„Normalstudierenden“ entspricht
längst nicht mehr der Realität.
Eröffnung des Lifelong Learning Campus 2011 (Lichtinstallation).
The inauguration of the Lifelong Learning Campus in 2011 (light installation).