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FRÜHJAHR 2012
bildfeindlich ist. Man soll ja nichts wirklich anschauen. Man
soll reagieren. Das verändert unseren Bewusstseinsapparat
natürlich.
EINBLICKE: Und verdeckt auch das Utopische in unserem
Alltag?
KREUZER: Nun gibt es verschiedene Vorstellungen von Uto-
pien.Die entscheidendeVorstellung hat Bloch in die Diskussi-
on des 20. Jahrhunderts eingebracht.Utopie ist nicht etwas, so
der Philosoph,was derWirklichkeit in irgendeinerWeise hinzu-
kommt. Das gibt es natürlich auch: etwa in Form technischer
Utopien. JeneVerkehrsutopien der 1960er Jahre zumBeispiel,
bei deren Anblick es einem heute kalt über den Rücken läuft.
Nein, was Bloch meinte, war dies entscheidende Moment: Es
geht etwas mit mir um. Ich merke, dass ich unzufrieden bin.
Ich möchte auf etwas Anderes hin. Und ich merke, dass das
nicht bloß mein – mehr oder minder zufälliges – Wollen und
Entwerfen ist oder bloßes wishful thinking.
EINBLICKE: Sondern?
KREUZER: Dass es da einen Grund gibt, eineMotivation, die ei-
nenmit dem, wasman vorfindet, unbefriedigt sein lässt.Utopie
heißt indiesemSinne nicht,etwas hinzuzuerfinden.Utopie, das
heißt vielmehr, ein Etwas als Gewissheit zu haben, das noch
nicht realisiert ist – aber handlungsentscheidend.Ein Etwas als
Erfahrungsdatum. Eben dies hat Blochmit einer guten Formel
umschrieben: dem „Dunkel des gelebten Augenblicks“.
EINBLICKE: Geben Sie uns ein Beispiel?
KREUZER: Jeder kennt diese Augenblicke in der Kindheit. Man
könnte sie Glückserfahrungen nennen. Ich erinneremich, wie
ich als Kind einmal eine Stadt aus Sand gebaut hatte. Beim
Spielen darin reflektierte dann plötzlich ein Stück Glas den
Lichtstrahl der Sonne. Dieses Reflektieren hatte eine Über-
zeugungskraft, es war so etwas wie Sinnevidenz.Von solchen
Erfüllungserlebnissen sammeln wir viele in unserem Leben
an. Und ahnen dabei, dass der Großteil unseres Lebens den
Verheißungen dieser erfüllten Augenblicke nicht entspricht.
DieseAhnunghatmit dem„Dunkel des gelebtenAugenblicks“
zu tun. Der kommt unserem Erfahren nicht hinzu. Der sitzt
vielmehr im Zentrum unseres Erfahrens.
EINBLICKE: Es handelt sich also um etwas ganz und gar All-
tägliches?
KREUZER: So wie das „Jetzt“, das jetzt schon vorbei ist. Dunkel
steht also nicht für etwas Geheimnisvolles oder etwas bloß zu
Erwartendes. Der Sinn der Utopie richtet sich viel entschei-
dender auf das, was im Gegenwärtigen möglich ist – darauf,
und das ist etwas, was sich von Bloch her als Arbeitsprogramm
fortschreibt, was „noch nicht“ ist. Das geht im Augenblick
vorüber – das ist der Strahl, der sozusagen mit einem Schlag
die Stadt aus Sand sinnerfüllt werden ließ.
EINBLICKE: In der Gegenwart möglich und ihr eingeschrieben,
aber noch nicht erfüllt: Kant, Hegel und Augustinus hatten
erheblichen Einfluss auf das Blochsche Utopieverständnis.
Was genau haben sie Bloch mitgegeben?
KREUZER: VonAugustinus stammt ein schneidender Satz:  „Wer
in der Hoffnung glückselig ist, ist es noch nicht.“ Was wir als
Hoffnung –mit demLichtstrahl auf den Sandbänkenmensch-
licher Praxis – erinnert haben, von dem wissen wir natürlich,
dass es „nicht ist“. Und
darin besteht gerade
sein Sinn: als Negation
des Vorfindlichen. Es
ist ein Maßstab, mit dem und an dem wir das geschichtlich
Vorfindliche messen. Kant hat so etwas regulativenVernunft-
gebrauch genannt.
EINBLICKE: Was sich mit dem altgriechischen utopia deckt:
dem „Nicht-Ort“, dem Nicht-Verortbaren.
KREUZER: Und genau hier – um unseren kleinen Betriebs-
ausflug in die Philosophie zu ergänzen – schließen in je ver-
schiedener Weise Bloch wie Adorno an Hegel an: an dessen
Auffassung des Sinns bestimmter Negation. Was ist im„Nicht“
enthalten? Der „Vorschein“ dessen, was noch nicht ist: dafür
steht Blochs EnzyklopädiedesHoffnungssinns vonUtopie.Oder
das strikteBilderverbot, das inder Benennungder Katastrophen
die Spiegelschrift von deren Gegenteil sieht: das führt Adorno
durch. Und er zeigt in der„Negativen Dialektik“: die Negation
des Lichtstrahls ist eben als negierte Sinnevidenz nicht ver-
schwunden – sondern gerade als Negation weiter präsent:
eben als das Ungenügende, das wir am Vorfindlichen haben.
EINBLICKE: Bleibt etwas von solchen „Lichtstrahl-Erfahrungen“
in uns zurück – oder bleichen sie einfach langsam aus?
„Es gibt nur noch fortwährendes
Reagieren-Müssen.“
„Was ist im Gegenwärtigen möglich?“ Szenischer
Blick in die Oldenburger Innenstadt.
"What is possible in the present?" A scenic view
in Oldenburg‘s city centre.