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              FRÜHJAHR 2012
            
            
              KREUZER: Wir wissen, dass das, was wir als Alltagsgesche-
            
            
              hen wahrnehmen,  dem Lichtstrahl nicht entspricht. Aber
            
            
              wir haben den Maßstab, der
            
            
              unser Alltagswissen mit der
            
            
              erinnerten Sinnevidenz ver-
            
            
              spannen lässt. Und dadurch
            
            
              erbt sich das fort. Und es kommt natürlich auch darauf an, wie
            
            
              bewusst wir mit solchen besonderen Erfahrungen umgehen.
            
            
              EINBLICKE: Für Bloch findet sich das Noch-Nicht gerade in der
            
            
              Kunst wieder, alsVorschein des Möglichen. Welche Rolle spielt
            
            
              die Kunst, sich das, was Sie als Maßstab bezeichnet haben,
            
            
              bewusst zu halten?
            
            
              KREUZER: Unterscheidenwir hier zwischen „Realität“ und „Wirk-
            
            
              lichkeit“.  Es gibt Realität, die vorhanden ist und die man empi-
            
            
              risch bestimmen kann. Das hat noch nicht viel mit Kunst zu tun.
            
            
              Wirklichkeit hingegen ist dasAchtenauf dieKräfte, diedawirken.
            
            
              Wenn icheinMusikstückhöreundmich frage: Wasgefälltmir da,
            
            
              was berührtmich? Das sinddannnicht die Sinusschwingungen
            
            
              der Tonkurve. Was einen da – immer mit Bloch zu reden – in das
            
            
              Dunkel des gelebten Augenblicks führt, ist in gewisser Weise
            
            
              nichts. Denn ich kann dieses Erfahren als Objekt nicht dingfest
            
            
              machen, umder dabei gemachtenErfahrunghabhaft zuwerden.
            
            
              EINBLICKE: Warum ist es für mich dennoch wirklicher als die
            
            
              Realität?
            
            
              KREUZER: Weil ich darin bemerke, was mein Erleben struktu-
            
            
              riert, was die Bedingungen der Möglichkeit sind, die uns zu
            
            
              Erfahrungen kommen lassen. Es geht umErmöglichung.Und
            
            
              hier kommt die Kunst ins Spiel. Kunst hat mit dem zu tun, was
            
            
              die Bedingungen der Wirklichkeit von Erfahrung begreiflich
            
            
              werden lässt.  Adorno hat das mit einer sehr prägnanten For-
            
            
              mel umschrieben:  „Worauf die Sehnsucht anden Kunstwerken
            
            
              geht – dieWirklichkeit dessen, was nicht ist –, das verwandelt
            
            
              sich ihr in Erinnerung.“ Das ist ein zentraler Satz seiner „Äs-
            
            
              thetischen Theorie“. Und einer,  der für die Gegenwart, für die
            
            
              Selbstreflexion gesellschaftlicher Erfahrung, nicht nur aktuell,
            
            
              sondern unverzichtbar ist.
            
            
              EINBLICKE: Was sind die Perspektiven der Oldenburger For-
            
            
              schungen zu Adorno und Bloch?
            
            
              KREUZER: Es gibt hier die kritische Masse für einen For-
            
            
              schungsschwerpunkt zu den intellektuellen Debatten in der
            
            
              ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Aktivitäten um das
            
            
              Karl-Jaspers-Haus, das Hannah Arendt-Zentrum, die Adorno-
            
            
              Forschungsstelle: das ist eine breite Forschungsbasis für die
            
            
              intellektuelle Topographie der ersten Hälfte des 20. Jahrhun-
            
            
              derts. Das zu bündeln, ist die gemeinsame Perspektive – etwas
            
            
              sehr konkret Mögliches.  
            
            
              Matthias Echterhagen
            
            
              „Utopie heißt nicht, etwas
            
            
              hinzuzuerfinden.“
            
            
              Vorschein des Noch-Nicht: Raum-Skulptur„Aus dem Carl von Ossietzky-Zyklos“
            
            
              von Detlef Kappeler im Hörsaalgebäude.
            
            
              A previsualisation of "that which does not yet exist": Raum-Skulptur "Aus dem
            
            
              Carl von Ossietzky-Zyklos" by Detlef Kappeler at the main lecture hall building.