Presse & Kommunikation

EINBLICKE NR.23 APRIL 1996
FORSCHUNGSMAGAZIN DER CARL VON OSSIETZKY UNIVERSITÄT OLDENBURG

 

Zur russischen Kulturphilosophie der Gegenwart

von Rainer Grübel

Das zwanzigste Jahrhundert hat innerweltlich Eschatologien den Garaus bereitet. Nur hartgesottene Fortschrittsdenker erwarten noch die Selbsterleuchtung des philosophischen Diskurses. Im Westen macht sich Katastrophenfurcht breit in Gestalt weltlicher Apokalyptik, die als Negativabdruck des fortschrittsgläubigen Adventismus der 60er und 70er Jahre auf unheilschwangere Kräfte der Zeit setzt.

Rußland im Umbruch

Rußland im Umbruch: Kampf um das "Weiße Haus" beim Putschversuch der alten Garde 1993

Der Zerfall der Sowjetunion hat im geistigen Leben Rußlands viel stärkere zentrifugale Kräfte freigesetzt, die nach jahrzehntelangem Druck auf den Mittelpunkt das Randständige erkenntnisträchtig werden ließen. Vom sich entladenden Druck ist der noch vor einem Jahrzehnt erratisch scheinende Block Sowjetunion in eine noch unbestimmte Anzahl Teile zerrissen, ohne das die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten oder auch Rußland im engeren Sinne als gleichwertige Nachfolger gelten. Wie nach der Häutung, die unverhofft in eine Teilung übergegangen ist, läßt sich das Ende des Leibes von innen her nicht mehr spüren. Unversehens gibt es wie bei den ineinander steckenden Matrjoschka-Puppen mehrere Körper mit unterschiedlichen Umfängen. Die Ost-West-Ausdehnung vom sibirischen Wladiwostok bis zur polnischen oder weißrussischen Grenze scheint fester und spürbarer als die Nordwest- und Südgrenzen. Was Wunder, daß nach dem Abschied vom Marxismus (1992) russische Bücher mit Überschriften wie Russische Idee oder Über Rußland und die russische philosophische Kultur Konjunktur haben.

Die gegenwärtig vor allem in weniger gebildeten russischen Kreisen wirksame Fürsprache für die Verwandtschaft Rußlands mit Asien geht auf den Philosophen und Linguisten Trubeckoj sowie auf den Geographen, Ökonomen und Philosophen Savickij zurück und wurde fortgeführt von dem Historiker und Geographen Lev Gumilev. Gumilev hat gegen die 'eurozentristische Legende' vom tatarisch-mongolischen Joch (1240-1480) die Sicht einer kulturell fruchtbaren Symbiose der mongolischen Nomaden mit den ostslavischen Waldbewohnern gestellt. Seine These von der "Passionarität" der Steppenbewohner erinnert durch die Gründung der Ethnogenese auf Klima und Landschaft nur zu sehr an die Grundlegung von Hippolyte Taines positivistischem Kulturmodell in Klima, Landschaft und Rasse. ("Passionarität" nennt Gumilev jene biochemische Energie, die ein Mensch aus seiner natür lichen Umwelt in sich aufgenommen hat. Sie ist individuell verschieden und bestimmt in ihrer Summe die Passionarität einer Ethnie.)

Gewiß haben die Ostslaven von den Turkvölkern und Mongolen viel fürs Verwalten und Kriegsführen lernen können, manches auch für die Anlage von Städten, nicht aber das Philosophieren. Wie die Orthodoxe Religion stammen auch ihre Schriftsprache, ihre Literatur und ihre Denkformen aus Byzanz. Infolge dieses byzantinischen Erbes kennt das ostslavische Mittelalter bis hinein ins 16. Jahrhundert keine von der Religion unabhängige Philosophie: Aristoteles war kaum bekannt, die über Spanien vermittelten, das westeuropäische Denken herausfordernden arabischen Einflüsse sind hier ausgeblieben.

Die russisch-orthodoxe Kirche hat sich mit wechselndem Erfolg bis weit hinein ins 19. Jahrhundert gegen jede philosophische Lehre an den Universitäten zur Wehr gesetzt, und seit den 20er Jahren unseres Jahrhunderts behinderte der Marxismus-Leninismus die akademische philosophische Ausbildung. Keine fünf Jahre nach der Oktoberrevolution ließ Lenin noch nicht emigrierte Philosophen und selbständige Denker auf zwei Schiffe setzen und nach Westeuropa verfrachten. Rußland, das das westeuropäische geistige Leben um so bedeutende Köpfe wie Berdjaev und Frank, Losskij und Šestov bereicherte, wurde zur philosophischen Wüste. Noch verbliebene Philosophen brachten die Bolševiki um wie Pavel Florenskij (1937) und Gustav Špet (1940).

Pavel Florenskij und Wladimir Solowjow

Pavel Florenskij und Wladimir Solowjow


Skovoroda, der früheste ostslavische Denker, hat mit seinem Gnoseologischen Dualismus von sichtbarer (kreatürlicher) und unsichtbarer (göttlicher) Welt sowie mit seiner pragmatischen Ontologie die Säkularisation des Denkens vom religiösen Standpunkt befördert. Die Kehrseite ist jene Immanenz des Religiösen, die bis auf den heutigen Tag das Philosophieren in Rußland kennzeichnet. Außerhalb der Religion, stets aber im Dialog mit ihr, führte die russische Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts von Lomonosov über Puškin bis Cechov die Verweltlichung des Denkens fort in Richtung auf eine literarische Philosophie. Auf sie stoßen wir in den religiösen Schriften Gogols wie in den profanen Reden und Abhandlungen Turgenevs.

Der russische Symbolismus hat die beiden nach westlicher Vorstellung periphären Überlieferungen, die religions- und die literaturphilosophische, um die Jahrhundertwende zum Schnitt gebracht. Und gerade in diese Zeit fällt die erste Blüte der russischen Philosophie. Sie ist gleichermaßen geprägt von der lebhaften Wirkung Hegels wie durch die fehlende Rezeption von Descartes und Leibniz. Mehr als die Aufklärer haben die russischen Philosophen bis in die jüngste Zeit Spinoza gelesen. Kant fand seinen Weg nach Rußland erst im 20. Jahrhundert über die Marburger Schule.

Die Rolle der Literatur als Wegweiser in der Welt des Denkens ist bis vor wenigen Jahren maßgeblich befördert worden von der in philosophischen Fragen besonders strengen russischen und sowjetischen Zensur. Noch heute liest in Rußland die Werke von Puškin und Gogol', von Dostoevskij und Tolstoj, von Bulgakov und Platonov auch, wer in Fragen des Denkens Belehrung sucht. Was im Deutschen trotz oder wegen Nietzsche viele an der Schreibweise Benjamins stört, gilt für den Tonus des russischen Denkens von Anfang an: Er hält seit Solov'ev und Rozanov eine 'literarische Philosophie' in Bewegung.

Dieser Standpunkt gewährt einen aufschlußreichen Blick auf die kulturelle Gegenwart: Postmoderne und Dekonstruktivismus nehmen vorausliegende Bewußtseinsvorgänge für Seinsereignisse. Umgekehrt wird hier von einem der Postmoderne exterritorialen Standpunkt das postmoderne Sein als pures (Sprach-)Denken entlarvt. Mamardašvili und Pjatigorskij läuten das Ende des linguistischen Zeitalters ein, indem sie über die postmoderne Kritik am Logozentrismus hinaus auch die Voraussetzungen von Derridas Grammatologie verwerfen. Ihre Metatheorie des Bewußtseins kann einen lawinenartigen Rutsch in den Geisteswissenschaften auslösen; wer ihr folgt, wird das Schwergewicht von Textstudien auf Forschungen über konkrete Bewußtseinsvorgänge verlagern.

Den Gang von der Einstellung auf Norm und Regel zur pragmatischen Betrachtung des konkreten Einzelfalls beobachten wir auch in der russischen Logik. Die Wahrheit im Diskurs überschreibt Jurij Levin seine aussagenlogische Untersuchung der Wahrheitsfrage, die mit Blick auf die Singularität oder Pluralität von Wahrheit in alltäglichen Sätzen dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten nur eingeschränkte Gültigkeit zubilligt.

Indem Levin gegen die Gepflogenheit wahrheitslogischer Abhandlungen Aussagen mit zweifelhaftem und unklarem oder relativem, mit bedingtem oder subjektivem sowie mit irrelevantem Wahrheitswert betrachtet, kann er die Eindeutigkeit des Wahrheitswertes in Äußerungen des realen Diskurses als Ausnahme herausschälen. Für die überwiegenden Fälle der Ambivalenz, der Unentscheidbarkeit und der Irrelevanz gelingen ihm bemerkenswerte Einsichten. Der totalitäre Diskurs ersetzt durch rituellen Sprachgebrauch den zukunftsoffenen Gegensatz des je erst festzustellenden Wahr oder Unwahr durch die normativen, im voraus festgelegten Alternativen richtig oder falsch, zulässig oder unzulässig. Dies gilt übrigens in nicht minderem Maße für die Rede im Zeichen von 'political correctness': Ohne das von Ideologen und Wissenschaftsmanagern gescheute Risiko des Irrtums kann Wahrheit keine Früchte tragen. Levin fordert daher, die Philosophie müsse Abschied nehmen vom Anspruch auf Wahrheit.

Eine neuartige Philosophie des Raums erhebt in Podorogas Metaphysik der Landschaft den Standort des Philosophen zum Gegenstand des Philosophierens. Sie individualisiert die ökologische Passionarität von Lev Gumilevs landschaftsbestimmter Ethnogenese. Landschaft ist bei Podoroga zunächst Kulturlandschaft. Dieser Unterschied gegenüber Gumilev folgt schon daraus, daß anders als die Steppe der nomadisierenden Mongolen das Land Modia, das Engadin und der Schwarzwald nicht schicksalhafte Geburtsorte, sondern geistige Räume bilden, die Podorogas 'Helden' Kierkegaard, Nietzsche und Heidegger erst gesucht und dann aufgesucht haben. Es geht dem russischen Philosophen um die Kongruenz zwischen Grundprinzipien in den Strategien des Philosophierens und Erfahrungen einer physikalischen Landschaft, die in Denkfiguren und Darstellungsstile vordringen. Er erliegt dabei dem Sog der von Gumilev postulierten mythischen Kommunion von Erdenleib und (Volks-)Körper, von Landschaft und Mentalität. Die unliebsame Erinnerung an Josef Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Volksstämme und Landschaften kommt auf. Michail Ryklins Philosophieren setzt dagegen die Tradition der russischen Kulturologie Denkanstößen der frühen französischen Postmoderne aus. Seine 'Logiken des Terrors' treten jenen terroristischen Praktiken gegenüber, die in diesem Jahrhundert ihre schrecklichste Gestalt im sowjetischen Stalinismus und im deutschen Nationalsozialismus angenommen haben. Sieht er die Praxis des Staatsterrors stets auf einen kollektiven Körper gerichtet, in dem der Leib des einzelnen, gesichtslos gemachten Menschen aufgelöst wird, so richten sich die Terrorlogiken als reflexive Kulturerfahrung des Schreckens auf den je einzelnen Leib.

Ryklin stellt der westlichen (terrorologisch-sadistischen) Bekenntnistradition eine östliche Überlieferung gegenüber, die das Geschlecht verselbständigt, zur kosmischen Erscheinung erhebt und vor allem in der Literatur in Erscheinung tritt. Grundprämisse seine Kulturmodells ist der Gegensatz zwischen solcher Singularität des menschlichen Körpers in der reflexiven wie auch der metareflexiven Kultur auf der einen Seite und dem kollektiven sowie unreflexiven Charakter des Wortkörpers in der modernen, von der Industrialisierung geprägten urbanen verbalen Kommunikation auf der anderen.

Die Entgegensetzung von historischem Terror mit seiner Orientierung auf Gründe zum einen und der wie Naturgesetzmäßigkeiten ungeschichtlichen Terrorlogiken mit ihrer Einstellung auf Wirkungen zum anderen, gestattet es, aus der Vermitteltheit der Zeit herauszuspringen, deren unverzichtbarer Bestandteil die Thanatologie ist. So wird der Schritt vom "Diskurs des Geschlechts" der Oktoberrevolution zum "natürlichen, kosmischen Terror" der 30er Jahre als jener Abschied des Stalinismus von der Geschichte faßbar, der in der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl sein spätes Signum hat.

Indem Ryklin die Fähigkeit des exstatisch rationalen Terrors herausstellt, den logozentrischen Verstand zu besiegen und direkt auf den Körper zu zielen, gibt er ein Begehren nach Unmittelbarkeit kund, das der Postmoderne ebenso fremd ist wie die kosmologische Dimension des russischen Philosophierens. Hier kommt auch ein stetiges Motiv der russischen Geschichte zu literarisch-philosophischen Ehren, das Motiv des Kronprätendenten, dessen Rolle bei de Sade Gott zugewiesen wird und so die Normen des rationalen Atheismus sprengt.

Mit dem Lockruf "Yes, Apocalypse, yes now" negiert Boris Groys Derridas Aufschrei "No Apocalypse, not now". Aus kulturökonomischer Sicht, die in guter russischer Tradition die verkündete Wahrheit pragmatisch mit Blick auf die Frage "cui bono?" betrachtet, rollt er die Endzeitstimmung an Hand von Derridas Kritik des Logozentrismus auch als postmoderne Selbstkritik auf. Groys macht im Atomkrieg den konkreten Fall von Derridas Meta-Apokalypse aus, die alle (literarischen) Fiktionen - das 'Archiv' - auszulöschen drohe. Indem der Poststrukturalismus anders als sein Vorläufer nicht die Bedeutungseinlösung, nicht das Treffen der Raketen ins Ziel zur Norm setze, sondern die Bestimmungsirrung, schwinge sich die Apokalypse der Apokalypse auf zur Hoffnung auf Rettung und Derrida, der Garant der Rettung, zu ihrem Führer.

Igor' Smirnovs Essay Das Urverdrängte hat seinen Ort im Zusammenhang seiner gerade in Moskau erschienenen Psychodiachronologik. Dieser Band, der die russische Kulturentwicklung seit der Romantik als Fächer von Stadien psychischen Reifens entfaltet, faßt Arbeiten aus den letzten fünfzehn Jahren zusammen und bildet nach Vygotskijs Kunstpsychologie und Grifcovs Psychologie des Schriftstellers aus den 20er Jahren den dritten großen Wurf einer russischen Kulturpsychologie. Sie bietet eine Psychotheorie, ja, eine Psychophilosophie der Kulturentstehung in nuce.

Am meisten fordern den westlichen philosophischen Leser jene russischen Arbeiten heraus, die im Sinne einer "nichtklassischen Philosophie" die cartesianische Trennung von Subjekt und Objekt zu überwinden suchen. Die russischen Philosophen der Gegenwart behaupten ihren Ort zwar am Rande der klassischen Philosophie, doch mitten im Leben.

Der Autor

Der Autor Prof. Dr. Rainer Grübel, Hochschullehrer für slavische Philologie am FB Sprach- und Literaturwissenschaften, studierte in Göttingen, Frankfurt und Leningrad Slavistik, Germanistik und Philosophie. Nach der Promotion wurde er zunächst ordentlicher Professor an der Universität Utrecht und dann an der Universität Leiden. 1986 nahm der den Ruf an die Universität Oldenburg an.