Presse & Kommunikation

EINBLICKE NR.23 APRIL 1996
FORSCHUNGSMAGAZIN DER CARL VON OSSIETZKY UNIVERSITÄT OLDENBURG

 

Eine "Schule für geistig nicht normal entwickelte Kinder"

von Ulrich Schröder

Basierend auf dem in seltener Vollständigkeit erhaltenen Quellenmaterial, werden die Vorgeschichte und Gründung der Kölner "Hilfsschule" dargestellt. Die Analyse bezieht sich im einzelnen auf die Versuche zur Bestimmung der Schülerschaft und auf sozio-ökonomische Aspekte wie Berufe der Eltern, Wohnlage u.a.

Kölner Hilfsschule von 1886

Kölner Hilfsschule von 1886
"Daher ist es mit Freuden zu begrüßen, daß eine Schule errichtet wurde, worin diese armen Kinder allein und mit Rücksicht auf ihre geringe Begabung behandelt und unterrichtet werden."

Heute, am 15. Nov. 1886, dem Sterbetage des Joh. Amos Commenius, begann zu Köln auf der Burgmauer Nro 31 der Unterricht in der Schule für die geistig nicht normal entwickelten Kinder hiesiger Stadt. Es sind dies solche Kinder, welche, weil langsam im Denken und Urteilen, schwerfällig im Auffassen und Behalten, unbeholfen im Anwenden und Begreifen, nicht imstande sind, dem gewöhnlichen Unterrichte der Elementarschule zu folgen; sie sind dieser eine hemmende Last; sie beeinträchtigen, wenn sich der Lehrer eingehend mit ihnen beschäftigt, die Fortschritte der normal befähigten Kinder und nehmen trotzdem bei ihrer Entlassung aus der Schule nichts mit, als die Erinnerung an qualvoll verlebte Jahre und (zum großen Leidwesen der Eltern) die Unfähigkeit, sich im Leben in nützlicher Weise durchzubringen. Daher ist es mit Freuden zu begrüßen, daß eine Schule errichtet wurde, worin diese armen Kinder allein und mit Rücksicht auf ihre geringe Begabung behandelt und unterrichtet werden. Nach vielen Vorarbeiten seitens des Schulinspectors Herrn Dr. Brandenberg wurden mit Genehmigung der Königlichen Regierung zunächst zwei Klassen eingerichtet; die Führung der Knabenklasse mit 28 Schülern wurde dem Lehrer Michael Holl und die der Mädchenklasse mit 20 Schülerinnen der Lehrerin Anna Altengarten übertragen. Diese 48 Kinder waren aus den von den Rectoren der städtischen Elementarschulen bezeichneten Schülern durch den Schulinspector Herrn Dr. Brandenberg und den Sanitätsrat Herrn Dr. Laudahn, Director der städtischen Irren-Anstalt Lindenburg, unter Mitwirkung der beiden genannten Lehrpersonen in den betreffenden Schulen auf ihre geistigen Schwächen und körperlichen Gebrechen untersucht und dann als für unsere Anstalt passend bezeichnet worden . . ."

Mit diesen Zeilen beginnt die Schulchronik der ersten Kölner Schuleinrichtung für die Kinder, die man heute "lernbehindert" nennt. Der erste Lehrer bemüht sich in seinen Sätzen um einen gehobenen Ton und verweist gar auf einen der bedeutendsten historischen Pädagogen, Comenius. Das entspricht wohl seinem Selbstgefühl, mitzuwir ken an einer guten neuen Sache.

In der Tat war diese Art besonderer Schule für Kinder mit extremen Lernschwierigkeiten noch jungen Datums: Gefordert wurde ihre Einrichtung zwar bereits 1864 in einer kleinen Schrift, die erste wirkliche Schulgründung geschah aber erst 1879 in Elberfeld (heute Wuppertal). Es folgten zwei Jahre später Braunschweig und Leipzig. Zur ersten Hilfsschule in Oldenburg kam es übrigens erst 1908. Waren zuerst die Bezeichnungen überall verschieden (Nachhilfeschule, Schule für Schwachbefähigte usw.), so setzte sich später der in Braunschweig gewählte Name "Hilfsschule" allgemein durch. Insbesondere von Braunschweig und dem dortigen Lehrer Kielhorn ging auch eine bedeutende publizistische, ja propagandistische Tätigkeit aus, die 1898 zur Gründung des "Verbandes der Hilfsschulen Deutschlands" und zur weiteren Verbreitung des "Hilfsschulgedankens" führte. Seit Anfang der 1960er Jahre wurde in der Bundesrepublik Deutschland der Name "(Son-der)Schule für Lernbehinderte" eingeführt, der zur Zeit in verschiedenen Bundesländern wiederum abgelöst wird durch "Förderschule", "Schule für Lernhilfe" o.ä.

Köln war also beileibe nicht die erste Gründung, und man konnte dort schon auf den Erfahrungen in den nahgelegenen rheinischen Städten Elberfeld und Krefeld aufbauen. Auch haben die dort tätigen Personen kaum öffentliche Wirkung ausgeübt. Das besondere des unspektakulären Beispiels Köln liegt darin, daß die Quellen auf allen Ebenen erhalten geblieben sind: sowohl die Unterlagen der Stadtverordnetenversammlung und der Schuldeputation als auch die Akten der Schulverwaltung, die Protokolle der Rektorenkonferenzen und schließlich die Schulchroniken. In ihnen kommen verschiedene Sichtweisen der historischen Vorgänge zum Ausdruck, die gegeneinander abgewogen werden können.

Vorgeschichte und Gründungsphase

Bereits Ende 1881, also nur zwei Jahre nach der Gründung der "Schule für Schwachbefähigte" in Elberfeld, findet sich erstmals ein Hinweis auf Aktivität des Kölner Schulinspektors Brandenberg in Richtung auf eine solche Schuleinrichtung: Er berichtet der Schuldeputation von seinem Besuch in der "Idioten-Anstalt" Hephata in Mönchengladbach. Anderthalb Jahre später wird in diesem Gremium erstmals direkt über eine "Schule für nicht vollsinnige Kinder" verhandelt, außerdem über eine "Schule für verwahrloste Kinder". Der Schulinspektor läßt 1883 von den Schulleitern eine erste Liste der "nicht normal entwickelten Kinder" erstellen, die 91 Namen enthält, aber völlig unbefriedigend ist, weil die Kriterien der Nennung offenbar unklar sind. Zur Gründung kommt es nicht, es läßt sich kein "geeignetes Lokal für eine solche Schule" finden. Ob dieses Argument vorgeschoben wird zur Kaschierung mangelnden Interesses, ist schwer zu beurteilen. Immerhin spielt die Raumfrage auch bei der endlich 1886 ernsthaft ins Auge gefaßten und im November realisierten Errichtung der Schule noch eine gewisse Rolle. Und das Gebäude, das dann zur Verfügung gestellt wird, hat zwar den gewünschten Hof für "turnerische Übungen", ist ansonsten aber in verwahrlostem Zustand und muß erst entrümpelt und instandgesetzt werden.

Brandenberg verfolgt sein Ziel trotz des Fehlschlages unermüdlich weiter, fordert wieder zur Erstellung von Listen auf und bringt die geplante Schule in der Schuldeputation zur Sprache. Und ab Anfang 1886 treten die Vorbereitungen in eine entscheidende Phase: Beschaffungsplan und Etat werden angefordert, die Beschaffung von Lehrmitteln in die Wege geleitet. Der Schulinspektor plant wiederum einen Informationsbesuch in einer Einrichtung, die als Vorbild dienen kann; aber diesmal ist es nicht mehr eine Anstalt, sondern die inzwischen seit über sechs Jahren bestehende Schule in Elberfeld. Der Direktor der städtischen Irrenanstalt wird um eine Stellungnahme aus medizinischer Sicht gebeten. Die beiden Lehrpersonen werden ausgewählt und zur Hospitation nach Elberfeld geschickt.

Und erneut wird eine Liste von den Rektoren der Volksschulen (Bezirks- und Freischulen) angefordert. Sie umfaßt wieder über 90 Namen, aus denen eine Jungen- und eine Mädchenklasse zu je 25 Kindern zusammengestellt werden sollen. Tatsächlich werden erheblich mehr Jungen als Mädchen aufgenommen (28:20). Aber das führt zu keinen weiteren Überlegungen - ebensowenig wie die Tatsache, daß schon die Zahlen der von den Schulen gemeldeten Kinder ein Verhältnis von etwa 3:2 zu ungunsten der Jungen aufwiesen. Dieses Verhältnis gilt noch heute in den Schulen für Lernbehinderte. Zur Interpretation des Phänomens wird üblicherweise auf soziologische Ansätze wie geschlechtsspezifische Rollen und die entsprechenden Verhaltensnormen zurückgegriffen. Doch können sie allein nicht ausreichen, da keine Behinderungsform, auch z.B. Blindheit nicht, eine ausgeglichene Geschlechterverteilung aufweist.

Um die Klassenfrequenz - sowohl die geplante von 25 Kindern als auch die tatsächliche der Knabenklasse von 28 - einschätzen zu können, muß man wissen, daß Volksschulklassen damals im allgemeinen mehr als doppelt so groß waren. In Vorüberlegungen, sei es in Köln, Leipzig oder andernorts, war allerdings von 15 bis 20 Kindern als der Maximalzahl die Rede. Der Kölner Lehrer Holl mahnt im Schriftverkehr mit der Schulverwaltung immer wieder geradezu verzweifelt die Senkung der Klassenfrequenzen an. Schon im Mai 1887 hat seine Schule drei Klassen: eine mit 28 Jungen, eine Mädchenklasse mit 17 und eine gemischte Klasse mit 27 Kindern. In einer Eingabe stellt er einerseits fest, die Mädchenklasse sei "vollständig genügend besetzt", anderseits bezüglich der beiden anderen Klassen, "bei dieser Schülerzahl" könne "nichts erreicht werden"; 15 bis 20 Kinder seien "das Äußerste". Den Kampf hat er verloren. 1893 wird die Maximalzahl von 25, die ohnehin längst Makulatur war, auf 30 angehoben.

Praktischer Unterricht in den neuen Hilfsschulen

Praktischer Unterricht mit
Berufsorientierung in den
neuen Hilfsschulen:
Tischlerwerkstatt,
Schulgarten,
Lehrküche

Ähnliches läßt sich fast überall beobachten: Kielhorn in Braunschweig spricht zwar von 20 als der "Normalzahl", aber seine erste Klasse 1881 hatte schon 29 Kinder, und die Durchschnittszahl auf Dauer entscheidend zu senken, ist auch ihm nicht gelungen. Man muß insgesamt zu dem Schluß kommen, daß die Hilfsschule von Anfang an nicht unter den Bedingungen hat arbeiten können, die alle pädagogischen oder medizinischen Vertreter und Befürworter für unabdingbar erklärten - und man kann hinzufügen: Das blieb auch später so, bis heute.

Die "passenden" Schülerinnen und Schüler

Eines der Hauptprobleme der entstehenden Hilfsschule war die Bestimmung der richtigen Schülerschaft. Man war sich zwar im klaren darüber, daß es sich um die Kinder handeln mußte, die in der Allgemeinen Schule nicht annähernd zu einem schulischen Lernerfolg kamen, obwohl sie nicht vorrangig an organischen Schädigungen litten oder bloß von Eltern oder Lehrpersonen vernachlässigt wurden. Sie sollten irgendwo zwischen den einigermaßen 'normal' Lernenden und den Geistigbehinderten ("Blödsinnigen") angesiedelt sein. Sie wurden bezeichnet als "die letzten in der Classe", die "geistig Schwachen", "Halbidioten", als "schwachbefähigt", "schwachbegabt" oder "(schulbildungsfähig) schwachsinnig". Das terminologische Durcheinander spiegelt die Tatsache wider, daß es an einer theoretischen Basis völlig mangelte. Dem entspricht auch die häufigste Formulierung, die sich vom Kölner Lehrer Holl und seinem Schulinspektor in den Quellen findet, nämlich ein diffuses "passend für unsere Anstalt".

Aus dem Rahmen fällt die Kölner Bevorzugung des Ausdrucks "geistig nicht normal entwickelt", die sicher auf den Schulinspektor zurückgeht. Woher er seine Anregung bezogen hat, konnte bisher nicht festgestellt werden. Es gibt lediglich eine Parallele, die Brandenberg aber kaum gekannt haben dürfte: In Braunschweig wurde vor der Gründung der Hilfsschule einmal die Bezeichnung "Schulabtheilung für geistig schwach entwickelte Kinder" erwogen. Beiden Formulierungen ist gemeinsam, daß sie nicht einen statischen Begabungsmangel, einen Defekt zum Ausdruck bringen, sondern den Aspekt der Entwicklung. Das mutet geradezu modern an, kann jedenfalls nicht einfach als bedeutungslose Variante innerhalb des bunten Spektrums der Begriffe abgetan werden. Darüber hinaus belegt die Art, wie die Bezeichnung gehandhabt wird, daß von Anfang an der möglichst genauen Kennzeichnung der Schülerschaft großes Gewicht beigemessen wurde. Daß die Suche danach mangels wissenschaftlicher Grundlagen erfolglos bleiben mußte, darf nicht dazu verleiten, ihre Ernsthaftigkeit in Frage zu stellen.

Soziale Aspekte

Ähnlich verhielt es sich mit sozioökonomischen Aspekten. Zwar wurde schon früh vorausgesehen, daß sich in den Hilfsschulen in der Hauptsache die Kinder der ärmeren Schichten finden würden. Aber eine systematische Bearbeitung des Phänomens scheiterte wiederum daran, daß Theorieansätze, hier soziologische, nicht zur Verfügung standen, sicher auch am politischen Klima der Wilhelminischen Zeit. Gleichwohl findet sich in den Quellen reiches Material zum Einblick in familiäre und soziale Verhältnisse. So fordert ein Polizeikommissar in seinem Bericht über die Mutter eines Kindes, die der Prostitution verdächtigt wurde, offen sozialpolitische Maßnahmen zur Minderung des sozialen Elendes jener 'Unterschicht'-Familien. Die Hausbesuche geben den Lehrpersonen eine Anschauung von der Lebenswirklichkeit ihrer Kinder, die in den Quellen ihren Niederschlag findet. Das gleiche gilt für die "nachgehende Fürsorge" Schulentlassener durch die Lehrpersonen, die es erlaubt, Einzelschicksale in ihrer beruflichen und sozialen Eingliederung über Jahre hin zu verfolgen. Das im einzelnen auszuführen, ist hier nicht der Platz. Stattdessen soll die Auswertung der schulischen Herkunft, der Berufsangaben der Eltern und der Adressen dargestellt werden. Diese Daten geben Hinweise sowohl auf ökonomische als auch auf soziokulturelle Aspekte.

Zur Zeit der beiden ersten erhaltenen Meldelisten 1883 und 1886 gab es in Köln noch die Unterscheidung schulgeldpflichtiger "Bezirkschulen" und sogenannter "Armen-Freischulen". Letztere litten unter insgesamt katastrophalen Bedingungen. Es kann kaum überraschen, daß von den 91 gemeldeten Kindern der Liste von 1883 67 in Freischulen waren und nur 24 in Bezirksschulen. 1886 war das Verhältnis mit 58:34 zwar weniger verzerrt, aber dazu muß man wissen, daß in der Zwischenzeit mehrfach Kinder aus überfüllten Freischul-Klassen an Bezirksschulen überwiesen worden waren.

In den Listen waren auch Angaben zum "Stand der Eltern" angefordert worden. Es dominieren "Tagelöhner", also Werktätige, die in einer sehr unsicheren Position ohne langfristige vertragliche Bindung sind jedoch nicht immer Ungelernte sein müssen. Es sind mehrfach Wechsel zwischen Handwerksanstellungen und Tagelöhnerei - und zwar in beiden Richtungen - zu belegen. Diese Tagelöhner, die man in jedem Falle zu den Armen oder zumindest zu den ständig von Armut Bedrohten zählen muß, machen in der Meldeliste von 1883 46% der Berufsangaben aus (und es handelt sich bis auf 3 Fälle ausschließlich um Eltern von Kindern aus Freischulen), 1886 40% und auch bei den Meldungen der folgenden Jahre um die 40%. Dieser Anteil ist extrem hoch, er übersteigt weit die Daten, die etwa aus Aachen (20%) und Düsseldorf (26%) überliefert sind. Hierin spiegelt sich die schon seit langem - und bis heute - problematische soziale und ökonomische Struktur der Kölner Bevölkerung.

Trägt man in einen Stadtplan die Wohnungen aller Kinder ein, die in den Meldelisten von 1886 aufgeführt sind, so zeigt sich eine starke Konzentration auf einen Teil der südlichen Altstadt. Darunter befinden sich mehrere Straßen, die seit Jahrhunderten als Arme-Leute-Quartiere bekannt waren. Es scheint in der Tat in großen historischen Städten eine sehr langlebige sozial-ökonomische Topographie zu geben. Während sich also die Klassen der "geistig nicht normal entwickelten Kinder" aus ganz bestimmten umschreibbaren Wohngebieten der Kölner Altstadt rekrutieren, befindet sich das Schulgebäude, dessen Lage ausdrücklich gutgeheißen wird, fast am anderen Ende der Stadt. Dies belegt erneut, wie 'blind' die Entscheidungsträger trotz intimer Kenntnisse der Stadt der ungleichen Verteilung der sozialen Schichten gegenüber waren.

Es wäre jedoch falsch anzunehmen, das Ignorieren der sozioökonomischen Aspekte wäre total gewesen. Aber es dauert immerhin ein paar Jahre, bis in der südlichen Altstadt eine zweite Hilfsschule gegründet wird, die bald die erste Gründung zahlenmäßig überflügelt. Die hauptsächliche Reaktion des Schulinspektors, der Lehrpersonen und privater, meist kirchlich orientierter Vereine auf die soziale Problematik besteht in intensiven Bemühungen um berufliche Eingliederung, die in die bereits erwähnte jahrelange nachgehende Fürsorge münden. Auf diesem Gebiet erreicht die frühe Hilfsschulpädagogik ihre höchstrangigen pädagogischen Leistungen (auch wenn diesen nur allzu oft kein dauerhafter Erfolg beschieden war).

Vorläufiges Fazit

Die historischen Anfänge der Schule für Lernbehinderte legen in mancher Hinsicht den Grund für deren problematische Situation heute: Das Verhältnis zur Allgemeinen Schule war ambivalent. Einerseits warb die Hilfsschule mit dem zweifelhaften Argument der Entlastung, anderseits schien in der Allgemeinen Schule keine besondere Begeisterung darüber zu bestehen. Abgesehen davon, daß die Sonderpädagogik wie ein unausgesprochener Vorwurf an die 'normale' Pädagogik wirken mag, hatte man schon lange andere Mittel, sich von der "Last" zu befreien: Man ließ die Kinder auf den hinteren Bänken sitzen, oder man entließ sie als "bildungsunfähig" aus der Schule.

Die städtischen Instanzen begrüßten einerseits die neue Schule, anderseits erschienen die geforderten, für damalige Verhältnisse winzigen Klassenfrequenzen denn doch als zu teuer. So wurden zwar - auch von den Vertretern der Hilfsschulidee - hohe Erwartungen aufgebaut, doch waren der Hilfsschule die Bedingungen zu deren Einlösung von Anfang an versagt. Allenfalls im Bereich der Berufsvorbereitung und der nachgehenden Fürsorge konnte sie glänzen.

Auch die Bestimmung der Schülerschaft ist gleich von mehreren 'Einerseits-Anderseits' geprägt: Die Kinder wurden zwar als nicht normal entwickelt und schwachbefähigt verstanden, in jedem Falle als unfähig, vom Volksschulunterricht zu profitieren, aber sie sollten nicht auf der Stufe der "Blödsinnigen" stehen, die überhaupt nicht mehr schulbildungsfähig seien. Als die entscheidenden Bedingungen der Schulprobleme der Kinder wurden a priori die schwach entwickelten geistigen (heute würde man sagen: intellektuellen) Fähigkeiten festgesetzt, und man fand auch viele Belege dafür; auf der anderen Seite machte man in der täglichen pädagogischen Arbeit immer wieder Erfahrungen, die jene theoretische Setzung hätten in Frage stellen müssen. Insbesondere wurden die Lehrpersonen beinah täglich mit der Armut und der randständigen sozialen Position der Kinder und ihrer Familien konfrontiert.

All diese Widersprüche oder Uneindeutigkeiten schleppte die Hilfsschule jahrzehntelang mit sich, trug sie hinüber in die Phase der Schule für Lernbehinderte und vermag sie im Grunde bis heute nicht aufzulösen. Daß in jüngster Zeit wieder ein Begriffswirrwarr einsetzt mit seinem Nebeneinander von "Schule für Lernbehinderte", "Förderschule" und "Schule für Lernhilfe", ist nur ein Indiz dafür. Nur kann ich heute oft nicht einmal das ernsthafte Bemühen erkennen, wie am Ende des 19. Jahrhunderts eine Klärung herbeizuführen. Und ob die Abschaffung dieser problematischen Form von Sonderschule eine Lösung darstellte, ist auch noch eine offene Frage ....

Der Autor

Der Autor Prof. Dr. Ulrich Schröder, Sonderpädagoge am Institut für Erziehungswissenschaft 2 im Fachbereich 1 Pädagogik, wurde 1978 nach Oldenburg berufen. Nach mehrjähriger Tätigkeit als Lehrer studierte er in Köln Psychologie, Pädagogik und Kunstgeschichte. Nach der Promotion war er als Akad. Rat in Köln tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind Geschichte der Lernbehindertenpädagogik, Metakognition und vergleichende Sonderpädagogik.