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G
esund sein, wenn man krank ist“:
Den Menschen Karl Jaspers in den
Mittelpunkt stellte Prof. Dr. Wolfgang
Frühwald in seiner Festrede. Mehr als
200 Gäste hörten demehemaligen Prä-
sidenten der Deutschen Forschungs-
gemeinschaft zu. Nachfolgend mit
freundlicher Genehmigung des Au-
tors eine stark gekürzte Fassung seiner
Ausführungen.
A
m 25. Geburtstag von Karl Jaspers
(1908) schrieb ihm der Vater, Carl
Wilhelm Jaspers, aus Oldenburg: „Am
23. Februar 1883 stand ich im Wohn-
zimmer an der Moltkestraße und wartete
darauf, Vater zu werden. Da plötzlich
drang Kindergeschrei an mein Ohr, und
genau in demselben Augenblick hörte
ich draußen als erstes Frühlingszeichen
den ersten Buchfinkenschlag. Frühling
drinnen und draußen! Dieses merkwür-
dige Zusammentreffen habe ich [...] gern
als ein freundliches glückverheißendes
Omen genommen ...“ Als der Vater diese
optimistische Zukunftsprognose für das
Leben seines ältesten Sohnes abgab,
wusste er bereits, dass dieser an Bron-
chiektasie litt, das heißt an den Folgen
irreversibler Fehlbildungen der Bronchen
und damit an Schwächezuständen, die
dem über 1.90Meter großen und hageren
Mann im Tagesverlauf regelmäßige lan-
ge Ruhepausen abnötigten. Eine Stunde
öffentlichen Auftretens bedeutete meist,
den restlichen Tag im Liegen zu verbrin-
gen. Das berühmte Arbeitssofa, das sich
Karl Jaspers konstruiert und in seiner
Bibliothek aufgestellt hatte, war die von
ihm mutig gegebene Antwort auf die
lebenslange Körperschwäche. Sie lautete
kurzerhand: Arbeit. Auf demArbeitssofa
konnte er ruhend nicht nur lesen, sondern
auch schreiben und so, inmitten seiner
Bücher, liegend arbeiten.
Die von Kindheit an bemerkte, aber
erst in Jaspers‘ achtzehntem Lebens-
jahr diagnostizierte Krankheit, die,
bei Einhaltung fester Regeln, nicht le-
bensgefährlich war, es aber sonst rasch
werden konnte, barg im blutigen 20.
Jahrhundert der Geschichte auch die
Chance zu überleben. Die Krankheit und
der Umgang mit ihr schenkten Jaspers
zudem eines der Basisthemen seines
Denkens, die Überzeugung, dass das
„Wesen des Menschen [...] sich erst be-
wusst [wird] in den Grenzsituationen“,
denen er nicht entrinnen kann, und als
die Jaspers „Tod, Leiden, Zufall, Schuld,
Kampf“ bestimmte. Nur die wenigsten
Professoren konnten das Ideal des selbst-
bestimmten Gelehrten so leben, wie dies
Karl Jaspers getan hat. „Was ich selber
der abendländischen Universitätsidee
und ihrer, wenn auch noch so getrübten,
Wirklichkeit in Deutschland verdanke“,
schrieb er in der Philosophischen Auto-
biographie, „ist außerordentlich. Es ist
in unserem Zeitalter märchenhaft: die
völlige Freiheit; das bescheidene Dasein
mit dem einzigen Beruf: zu denken; die
Ruhe dafür.“ Dieses Bekenntnis ist für
Jaspers‘ Weise, Philosophie zu betreiben,
charakteristisch. Er hat kein Begriffs-
system errichtet, seine Schülerinnen
und Schüler nicht in die Grenzen einer
Denkschule eingeschlossen. Wenn man
von den frühen Berufsjahren absieht, wo
es darum ging, sich im starr gefügten
Fächerkanon der Universität einen Platz
zu schaffen, so hat er nicht trandiszipli-
när in dem Sinne gearbeitet, dass er sein
Denken zwischen den Fächergrenzen
angesiedelt oder die Grenzen von kli-
nisch und theoretisch begründeten Fach-
wissenschaften aus in Richtung auf die
Nachbarwissenschaften überschritten
hat, Jaspers‘ Denken war vielmehr von
Beginn an anthropologisch fundiert, es
war auf die das bloße Dasein überschrei-
tende Existenz des Menschen ausge-
richtet, auf ihren Beginn, ihre Grenzen,
ihre Einbettung in einen transzendenten
Zusammenhang alles Seins.
Von seinen Eltern hat Jaspers Lebens-
maximen gelernt, die später in seine
Philosophie eingegangen sind: Lebens-
mut und Wahrhaftigkeit. Ohne sie hät-
te er die Jahre des Unheils zwischen
1933/34 und 1945 nicht überstanden.
Noch als ihm kurz vor Vorlesungsende
im Sommersemester 1937 mitgeteilt
wurde, er sei, auf der Basis des Willkür-
paragraphen des nationalsozialistischen
Gesetzes zur Wiederherstellung des Be-
rufsbeamtentums, „zur Vereinfachung
der Verwaltung [...] in den Ruhestand
versetzt“, fand der hochbetagte Vater
das für den Sohn entscheidendeWort des
Trostes: „Es ist gut, mein Junge, dass es
so gekommen ist; in diese Gesellschaft
passen wir nicht.“
Albert Fraenkel, von 1901 bis zu sei-
nem Tod (1938) der Karl Jaspers freund-
schaftlich verbundene Arzt, hat als
kundiger Lebensbegleiter in die glei-
che Richtung gewirkt wie die Eltern.
In der von ihm selbst beschriebenen
Krankheitsgeschichte hat Jaspers diesen
Freund als den Führer zum Verständ-
nis der eigenen Existenz und damit zu
den Grundlagen seines Philosophierens
ebenso wie zu den bedrohten, physischen
Grundlagen seines Daseins bezeichnet:
„Er lehrte mich, gesund zu sein, wenn
man krank ist.“
*
Neben der Landschaft der Jugend, Ol-
denburg und der nahen Meeresküste,
waren Heidelberg und Basel die Orte,
an denen Jaspers mit seiner Frau Ger-
trud wohnte und arbeitete. Mit ihr war
er seit 1910 verheiratet, an ihrem 90.
Geburtstag ist er am 26. Februar 1969 in
seiner Baseler Wohnung gestorben. „Die
einzige große Wende in meinem Leben“,
schrieb er im Rückblick 1953, „war der
Bund, den meine Frau und ich mitei-
nander schlossen. [...] Ich bin überzeugt,
sofern meine Philosophie eine Tiefe
Auf Karl Jaspers‘ Spuren oder
Vom Denken über die Grenzen der Fächer hinaus
Wolfgang Frühwalds Festrede anlässlich der Eröffnung des Karl Jaspers-Hauses am 7. September in Oldenburg
hat, hätte ich diese nicht erreicht ohne
Gertrud.“ Karl Jaspers gehörte (trotz
Krankheit) zum Kreis der von Joachim
Radkau als lebensfroh geschilderten
Heidelberger Professoren; die Formel
„dass ich gern lebte“ wiederholt sich
mehrfach in seinen Aufzeichnungen.
Von Familie, Ehe, Liebe und der Macht
der Sexualität aber hatte er in Theorie
und Praxis eine andere Vorstellung als
viele seiner Heidelberger Kollegen. Im
Selbstporträt 1966/67 hat er auf diesen
Unterschied gepocht: „Ich habe wieder-
holt über Liebe geschrieben. Es gilt man-
chen als konstruiert und utopisch und ist
für mich doch unzureichender Spiegel
einer Wirklichkeit.“ Seine Ehe war der
auf Leben und Tod geschlossene Treue-
bund mit einer Frau, die wegen ihrer
jüdisch-deutschen Herkunft und wegen
ihres Glaubens seit 1933/34 nicht nur aus
der Rechtsgemeinschaft des Staates, son-
dern aus der Gemeinschaft des Mensch-
seins ausgeschlossen wurde. Dieser
eheliche Treuebund wurde während der
nationalsozialistischen Herrschaft in
Deutschland noch fester geknüpft und
1948 durch die den Kollegen unver-
ständliche, fluchtartige Übersiedelung
in die Schweiz nochmals bestätigt. Es
gibt kaum einen ergreifenderen Text
unter Jaspers‘ Schriften als das Tage-
buch 1939-1942. Das darin dokumen-
tierte Ringen um die vielleicht mög-
liche Emigration, die sich steigernde
Gefahr der Trennung, der verzweifelte
Wunsch Gertruds, sich von ihremMann
zu trennen, um allein in den sicheren
Tod zu gehen, die Rechtfertigung eines
möglichen gemeinsamen Suizids, als
Vorwegnahme des KZ-Todes, all das
gibt auf wenigen Seiten einen tieferen
Einblick in Japsers‘ existentiell verbind-
liches Denken als alle noch so tiefsin-
nigen Konstruktionen seiner Philoso-
phie. „Wenn ich Gertrud nicht schützen
kann gegen Gewalt“, notierte er am 2.
Mai 1942, „so muss auch ich sterben.
[...] Ich gehöre zu ihr. [...] Meine Philo-
sophie wäre nichts, wenn sie an dieser
entscheidenden Stelle versagte. Treue ist
irgendwo absolut oder sie ist gar nicht.“
Karl Jaspers hatte sich während der Na-
ziherrschaft Zyankali beschafft, um vor
der sicheren Deportation gemeinsam
mit seiner Frau in den Tod zu gehen. Im
Oldenburger Jaspers-Haus werden die
Zyankalikapseln, sechs Glasampullen
aus dem Chemischen Laboratorium der
Hofapotheke Heidelberg, noch heute in
einer Vitrine, zusammen mit anderen
Utensilien aus Jaspers‘ Hinterlassen-
schaft, aufbewahrt. Die in ihnen pla-
stisch abgebildete Erinnerung an die
Jahre der Todesnähe hat Karl und Ger-
trud Jaspers nicht mehr verlassen. Der
Deportationstermin wurde schließlich
auf den 14. April 1945 festgesetzt. Am
30. März dieses Jahres besetzten ame-
rikanische Truppen Heidelberg.
*
Karl Jaspers hat sein Denken und seine
heftig umstrittenen politischen Schrif-
ten insbesondere während der Baseler
Jahre daran gemessen, ob es ihm ge-
lingen könnte, „die sittlichen Voraus-
setzungen der Politik und ihre realen
Bedingungen [für sich] zu klären“, und
daran, ob es ihm gelingen werde, sein
„politisches Denken an dem vorwegge-
nommenen Standpunkt des Weltbürgers
zu orientieren“, das heißt eines Bürgers
der Erde, der zuerst Mensch sein will,
um „dann aus diesem Ursprung einem
Volke anzugehören“. Dass zumindest
die vier Elemente, reines Wasser, das
Land und seine Bodenschätze, sau-
bere Luft und das Feuer, das heißt „die
Energie in allen ihren Formen“, als
„Gemeinschaftsgüter der gesamten
Menschheit betrachtet werden müs-
sen“, hat schon der vorläufige Entwurf
einer Weltverfassung gefordert, der in
Chicago in dem Jahr erschienen ist,
in dem Jaspers nach Basel ging. Wie
weit oder besser: wie wenig weit wir
mit solchen Visionen gekommen sind,
wird uns täglich in den von Menschen
entfesselten Katastrophen und Kriegen
vor Augen geführt. Auch heute noch
(vielleicht sogar heute mehr denn je)
provoziert das Denken von Karl Jaspers
zur Auseinandersetzung.
Wolfgang Frühwald
bei der Eröffnung
des Jaspers-Hauses.
Foto: Markus
Hibbeler
„Ich habe wiederholt über Liebe geschrieben“, hielt Karl Jaspers fest. Seine Gedanken kreisten dabei um seine Frau Gertrud, deren Schreibmaschine als Utensil aus dem Nachlass kunst-
voll im Flur des Jaspers-Hauses angebracht ist.
Foto: Daniel Schmidt
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