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FRÜHJAHR 2013
einer enormen Vielfalt von empirischen Wissensgebieten
wahrnahm. Die überzeitliche „Kommunikation“ mit den
großen Philosophen zu suchen und zugleich mit den Wis-
senschaften im Austausch zu sein: das waren seine Maximen
als kreativer Leser.
EINBLICKE: Mit den Wissenschaften im Austausch zu sein,
das ist auch eines der Ziele der Jaspers-Gesellschaft. Haben
Sie – als ursprünglicher Mediziner – schon Pläne, auch mit
den neuen jungen Medizinstudierenden der Universität zu-
sammenzuarbeiten?
BORMUTH: Dies bietet sich schon von Jaspers selbst her an,
der vielfach philosophische Essays für Mediziner schrieb. Von
meinen Tübinger Erfahrungen her weiß ich, wie sinnvoll es
ist, Medizinstudierendemit geisteswissenschaftlichen Texten
vertraut zumachen. Seminare und
Workshops können zum Weiter-
und Selbstdenken anregen, das
Kant sich für jeden mündigen
Menschen wünschte. Und der Mediziner ist wie wenige in
politisch, kulturell und ethisch brisante Problemfelder ge-
stellt, die nicht selten auch einer philosophisch geschulten
Urteilskraft bedürfen.
EINBLICKE: Gibt es schon erste Anfänge und Beispiele?
BORMUTH: Ich selbst stehe seit Jahren, meinem klinischen
Herkommen gemäß, im Austausch mit Psychiatern und Psy-
chotherapeuten. Gemeinsam veranstalten wir Symposien
und Weiterbildungsseminare. Im Herbst dieses Jahres, in
dem Jaspers´ „Allgemeine Psychopathologie“ hundert Jahre
alt wird, haben wir führende Köpfe der deutschen Psychiatrie
nach Oldenburg und Bremen eingeladen. Die Konferenz fragt
nach der aktuellen Relevanz von Jaspers für die Psychiatrie.
EINBLICKE: Was, würden Sie sagen, ist das Vermächtnis von
Jaspers?
BORMUTH: Wie bei jedem Denker gibt es bei Jaspers ge-
dankliche Momente, die den Test der Zeit nicht bestehen.
Und solche Theoreme, die uns andauernd herausfordern
und nachdenklich halten. Besonders fasziniert mich seine an
Kant orientierte Idee der Freiheit, die es so gut als möglich
zu verwirklichen gilt. Dies wird in seinem Umgang mit der
Lungenkrankheit deutlich, die ihm eine praktische Tätigkeit
verwehrte. Jaspers verlegte sich auf das „innere Handeln“
des Philosophen und trotzte dem Körper ein langes theore-
tisches Leben ab. So wurde er noch im achten und neunten
Lebensjahrzehnt zu einem der meist diskutierten politischen
Philosophen der Bundesrepublik, der über Hannah Arendt
auch in den USA bekannt wurde. Jaspers verließ seine Baseler
Wohnung kaum mehr, aber seine Gedanken gingen für ihn
um die Welt.
EINBLICKE: Seine körperliche Krankheit hatte einen philoso-
phischen Nutzen?
BORMUTH: Genau. Begonnen hatte seine berufliche Mar-
ginalität in der Psychiatrie, als seine Krankheit Jaspers nur
wenige Möglichkeiten im täglichen Klinikleben ließ, aber
ihm Zeit für Nachdenken und Gespräche mit Patienten und
Büchern schenkte. Durch die Krankheit war er genötigt, die
Rolle des engagierten Beobachters einzunehmen, von dessen
Einsichten die Psychiatrie seitdem profitiert. Auch in der Phi-
losophie führte er aufgrund der körperlichen Grenzsituation
ein abgeschirmtes Leben des Gedankens. Jaspers bezeichnete
sich selbst als „Outsider“, der unter den philosophischen Fach-
genossen „Narrenfreiheit“ genoss. Bis man merkte, dass er
aus der Psychiatrie existentielle Fragen mit ins Fach gebracht
hatte, die ein neues Nachdenken über den Menschen und
seine mögliche Freiheit auslösten.
EINBLICKE: Und was hat sie daran fasziniert?
BORMUTH: Dass sich Jaspers im Namen möglicher Freiheit
gegen sachliche Reduktionismen und schulische Dogmen
wandte. Philosophen sollen nach Jaspers unbequeme Zeit-
genossen sein, die uns im Sinne des Sokrates die Grenzen
des Wissens vor Augen führen. Nicht zufällig fiel der junge
Jaspers im Alten Gymnasium dadurch auf, dass er sich wei-
gerte, einer Schüler-Verbindung beizutreten. Er stand lieber
als Individuum für sich, mit Abstand zu den kollektiven
Meinungsbildern. Es kann noch heute anregen, selbst für
Momente innezuhalten und zu fragen, was wir eigentlich
tun, welchen Sinn unser Handeln hat und wohin es uns
führen soll.
Karl Jaspers
Der Mediziner und Philosoph Karl Jaspers (1883-1969)
wurde inOldenburg geboren undwirkte an den Universi-
tätenHeidelberg und Basel. Seine Schriften zur Psychiatrie
avancierten zu Klassikern. Nach 1929 begründete Jaspers
mit Martin Heidegger die deutsche Existenzphilosophie.
Als politischer Philosoph setzte er gemeinsammit seiner
Schülerin Hannah Arendt nach 1945 Akzente.
2008 fand in Oldenburg das Jaspers-Jahr statt, das inten-
sive Forschungen über den Oldenburger Philosophen
einleitete. In der Folge konnte die Heisenberg-Professur
für Vergleichende Ideengeschichte etabliert werden. Im
Karl-Jaspers-Haus hat diese Initiative ihren universitären
Ort.
Als Kernstück beherbergt das Haus die Arbeitsbibli-
othek des Philosophen, die rund 12.000 Bände aus
vielen Wissensgebieten umfasst. Außerdem enthält das
Jaspers-Haus Arbeitsräume für die Jaspers-Forschung
und Jaspers-Edition sowie zwei Appartements für
Gastwissenschaftler. Ein Vortragsraum bietet der neu
gegründeten Karl-Jaspers-Gesellschaft die Möglichkeit,
den Dialog der Wissenschaften und ihre Vermittlung in
die Öffentlichkeit unter anderem auch durch Veranstal-
tungen zu fördern.
Abgeschirmtes Leben
des Gedankens
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